Weltanschauung, „moderne“ Anthropologie, revolutionäres Denken

Einige alte, aber nicht veraltete weltanschauliche Fragen

Von Otto Finger

Imperialistische Ideologen verkünden bald die Ewigkeit des Kapitalismus, bald auch fälschen sie den Untergang dieses Systems in den Untergang der Menschheit um. Tatsächlich bedeutet das Ende des Kapitalismus nicht das Ende der sozialen Entwicklung, sondern den Untergang einer historisch überlebten Klasse, der Bourgeoisie. Ihr Untergang fällt zusammen mit dem Aufstieg der Arbeiterklasse. Die Erkenntnisse der Klassiker des Marxismus-Leninismus machen genau diesen weltgeschichtlich notwendigen Entwicklungsprozess zur wissenschaftlichen Gewissheit.

»Was vermag der Mensch? Ist er Herr oder Knecht seiner Umstände? Fähig zur schrankenlosen Vervollkommnung seiner physischen, intellektuellen und sittlichen Wesenskräfte, oder eingeschränkt in eine totale Abhängigkeit von Naturgesetzen, auf Gedeih und Verderb gefesselt an fremde Gewalten?

Erschöpft sich die Macht des Menschen im bloßen Erkennen solcher Gesetze und Gewalten, ist erzwungene Anpassung an sie die einzige Chance des menschlichen Lebens und Überlebens? Erfüllt sich im individuellen Leben und geschichtlichen Handeln ein begreifbarer Sinn?

Ist solche Sinngebung nur Befolgen eines biologischen Naturplans oder gar eines ewigen göttlichen Gebotes, eines erforschbaren, bald auch unerforschlichen Ratschlages Gottes, oder bestimmt der Mensch den Sinn des Handelns, seiner Zuordnung zum begriffenen Gesetz einer Epoche, einer gesellschaftlichen Entwicklungsstufe selbst? Kann das begriffene Gesetz zur selbstbewussten, sich selbst bestimmenden freien Tat des Menschen werden, oder ist dies ein unerfüllbarer Menschheitstraum, Ausgeburt einer vermessenen Illusion über die Macht der Vernunft gegen die Blindheit der Natur oder die Übervernunft Gottes?

Ist jeder Fortschritt in der Freiheit ein Werk nur des Denkens, des theoretischen Verhaltens zur Wirklichkeit, oder eher die Frucht der Tat, des praktischen Verhaltens? Gebührt der Vorrang in jedem der fraglichen Prozesse der materiellen oder ideellen Aktion?

Die Serie dieser Fragen lässt sich fortführen: Es sind charakteristisch weltanschauliche Fragen. Ihr Gemeinsames liegt darin, dass die Stellung des Menschen zur Welt, sein Verhältnis zur natürlichen und gesellschaftlichenWirklichkeit erörtert wird.

Es sind uralte weltanschauliche Fragen. Demokrit und Platon haben erste prototypische Antworten formuliert. Jener, indem er den Mikrokosmos des Menschen als Element des atomistisch aufgebauten, gesetzmäßig sich entwickelnden Makrokosmos eines in Raum und Zeit unendlichen materiellen Universums zu begreifen suchte. In diesem, Mensch und Natur zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammenschließenden Weltbild ist eine Entwicklungslinie weltanschaulichen Denkens vorgezeichnet, die bis in die Geburt der wissenschaftlichen Philosophie der Arbeiterklasse hineinreicht. Es ist der Materialismus – die erkenntnisoptimistische, auf das wissenschaftliche Begreifen der objektiven Gesetze abzielende, irreligiöse, den Menschen auf seine eigenen, naturgegebenen und in der Naturaneignung erwerbbaren schöpferischen Kräfte bestimmende Denkrichtung in der Philosophie. Von Platon datiert der gegenläufige, reaktionäre Weg philosophischer Antworten auf die Fragen. Erkennen heißt hier mehr mystisches Schauen denn vernünftiges Begreifen; das irdische Diesseits erscheint als blasse Kopie eines geistigen Jenseits.

Die genannten Probleme und die in ihnen als allgemeinstes philosophisches Problem aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewusstsein sind freilich auch moderne Fragen. Sie markieren einen uralten und einen ganz modernen Gegensatz zweier Grundrichtungen philosophischen Denkens.

Entgegen aller auch zeitgenössischen Modephilosophie, allem „klassischen“ und modernen Revisionismus, allen Versuchen, jenseits von Materialismus und Idealismus – etwa von der Praxis her, aus philosophisch unbestimmter Subjekt-Objekt-Dialektik, anhand einer philosophisch neutralen „kritischen Theorie“, in positivistischer Fixierung auf das gegebene schlechthin usf. – entgegen all diesem pseudowissenschaftlichen Umgehen der Grundfrage der Philosophie nach dem Verhältnis vom Denken und Sein, entgegen allen versuchen, den Gegensatz von Materialismus und Idealismus als veraltet abzutun, hat Lenin festgehalten, dass diese Begriffe und der weltanschauliche Parteienkampf keineswegs veralten konnten. Und Lenin hat den entscheidenden Gegensatz in allem philosophischen Denken als Widerspruch der Linie Demokrits gegen die Linie Platos akzentuiert.

Die durchaus noch gültigen Hauptpunkte des Gegeneinanders von progressivem und reaktionärem philosophischen Denken gibt Lenin in den folgenden Fragen an, deren Herabwürdigung zu „veralteten“ Problemen er für „kindisches Geschwätz“ erklärt: „Konnte der Kampf zwischen Idealismus und Materialismus in den zwei Jahrtausenden der Entwicklung der Philosophie veralten? Der Kampf zwischen den Tendenzen oder Linien eines Plato und eines Demokrit in der Philosophie? Der Kampf zwischen Religion und Wissenschaft? Zwischen der Verneinung oder der objektiven Wahrheit und ihrer Anerkennung? Der Kampf zwischen den Anhängern eines übersinnlichen Wissens und seinen Gegnern?“ [1]

Wir werden zu zeigen haben, wie diese philosophisch grundlegenden Gegensätze durchaus auch eines der übergreifenden Themen der geistigen Auseinandersetzung in unserer Zeit; das Thema der Revolution, präziser der modernen, sozialistischen Revolution betreffen.

Die eingangs aufgezählten Fragen wurden als weltanschauliche bezeichnet, weil das Verhältnis von Mensch und Welt unausweichlich berührend. Sie lassen sich zusammenfassen in die Frage nach der fortschreitenden, humanistischem Ziel zugeordneten Veränderbarkeit aller inhumanen Zustände und Verhältnisse. Und sie können zugespitzt werden zu der Frage: Wie ist Revolution möglich? Revolution als gründliche, umwälzende Aktion, deren Humanität sich am Maß der von ihr freigesetzten schöpferischen Kräfte der unerhörten Mehrheit aller Menschen, der arbeitenden Menschen misst? Um es in einer berühmten Formel des jungen Marx zu sagen: Wie ist die Revolution zu vollbringen, deren „kategorischer Imperativ“ gebietet, „alle Veränderungen umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ [2] Damit ist ein Grundthema der Marx’schen Philosophie und ihrer höchsten Entwicklungsstufe, des Leninismus, angegeben. Freilich in erster, vorläufiger Annäherung an jene Konkretheit der wissenschaftlichen Revolutionstheorie, wie sie erst aus der Vertiefung dieses Ansatzes durch die umfassende ökonomische Analyse des Kapitalismus , verbunden mit dem stufenweisen Aufbau der materialistisch-dialektischen Gesellschaftstheorie und der theoretischen Verallgemeinerung des proletarischen Klassenkampfes gewonnen werden konnte. Auf diese Zusammenhänge, auf diese Erkenntnisfortschritte der Revolutionstheorie aus der revolutionären Praxis selbst heraus wird detaillierter einzugehen sein.

Den am Beginn gestellten Fragen begegnen wir in der antiken Philosophie, in der klassischen deutschen Philosophie von Immanuel Kant bis zu Ludwig Feuerbach und auch in der spätbürgerlichen Philosophie von heute. Macht und Ohnmacht des Menschen, Herrschaft und Knechtschaft, Fortschritt und Verfall, Freiheit und Notwendigkeit, Erkenntnis und Handeln, Praxis und Theorie, Individuum und Geschichte – diese Begriffe sind in erster Linie philosophische Kategorien. Die in ihnen ausgedrückten Verhältnisse sind typische Objekte philosophischen Denkens – durch keine der klassischen und keine der modernen Naturwissenschaften adäquat oder gar erschöpfbar zu behandeln, so sehr freilich das jahrtausendealte Bündnis von Materialismus und Naturwissenschaft schon vor Marx ihrer spekulativ-idealistischen und religiös-theologischen Mystifikation entgegengewirkt hat. Und um auch dies zu betonen: selbst im unhistorisch beschränkten Menschenbild des vormarxschen Materialismus wird der Spekulation entgegengewirkt, sofern er das Konzept eines Naturwesens der Menschen entwirft, sofern er den Menschen aus den Fesseln religiös mystifizierter Denkweise zu befreien sucht und nicht zuletzt darum seinen wissenschaftlichen, historisch-materialistischen Begreifen vorgearbeitet hat. Ehe die Revolution als Aktion des gesellschaftlichen Menschen erkannt werden konnte, musste dieses als Naturwesen begriffen sein.

Weil es in all den angedeuteten Fragen um den Menschen geht, insbesondere aber im irreligiösen Materialismus, der den Menschen zunächst als Element des universellen Naturzusammenhangs begreift und ihn nicht zur Kreatur Gottes degradiert, lässt sich dieser Aspekt jeder Philosophie als ihr anthropologischer – zum Unterschied etwa vom naturphilosophischen – bezeichnen. Und in der Tat formierte sich der theoretisch reichste vormarxsche Materialismus, der bis dahin radikalste Bruch mit Idealismus und Religion, als anthropologischer Materialismus. Dieser Begriff bezeichnet den philosophischen Standpunkt Feuerbachs, seine programmatische Erhebung des Menschen zum höchsten Gegenstand der Philosophie.«

Anmerkungen

1 W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1962, S. 124.

2 K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 385.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 1.1. Einige alte, aber nicht veraltete weltanschauliche Fragen, in: 1. Kapitel: Weltanschauung, „moderne“ Anthropologie, revolutionäres Denken.

27.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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