Die vorgefundenen Produktivkräfte, die Produktivkraft der revolutionären Klasse und eine scheinrevolutionäre Denkweise

von Otto Finger

In die Situation, welche jede Generation, jede Klasse, jede Gesellschaftsformation als objektive Bedingung für ihre eigne Tätigkeit, ihr selbständiges Handeln, ihre eigenständige historische Entwicklung vorfindet, gehören somit die von den vorausgegangenen Geschlechtern geschaffenen Produktivkräfte. Sie bilden eine objektive Grundlage auch für das revolutionäre Handeln. Die revolutionäre Klasse setzt sie ein für die Lösung ihrer geschichtlichen Ziele. Ihre „Subjektivität“, ihre Fähigkeit revolutionär zu handeln, die alten Verhältnisse zu stürzen, ist so unauflöslich auch an diese „Objektivität“ gebunden: an vorgefundene Produktivkräfte, die dergestalt objektiv sind, von ihrem Bewusstsein, auch ihrem aktiven Tun zunächst so völlig unabhängig, dass ihre Aneignung durch die revolutionäre Klasse geradezu Voraussetzung – und Resultat in einem – ihres geschichtlichen Handelns wird. Wir erinnern dabei an die schon betagte Frage – geklärt in der Leninschen Auseinandersetzung mit scheinrevolutionärem, proletkultischem Revoluzzertum –, ob das revolutionäre, seine neue Ordnung aufbauende Proletariat nicht auch an die Stelle der bürgerlichen eine proletarische Eisenbahn, an die Stelle der bürgerlichen eine proletarische Mathematik setzen müsse. Diese Frage wird ja, obwohl seit dem Bestehen der Sowjetmacht nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch im Sinne schon der frühmarxistischen Auffassung [1/194] beantwortet, [1973] erneut aufgeworfen.

Bei Marcuse taucht sie in der folgenden Version auf: Um über den Kapitalismus hinauszugelangen, müsse man jenseits aller in ihm entwickelten Produktivkräfte völlig neu anfangen. Wenn man dergestalt nicht radikal alles im Kapitalismus Geschaffene total negiere, sei keine wirkliche Revolution möglich.

Dieses utopistische Programm, diese mystische Vorstellung vom „großen Sprung“ in ein nachkapitalistisches und nachindustrielles Niemandsland – Marcuse weiß von ihm im Grunde kaum mehr zu sagen, als dass es Nichtkapitalismus sein solle – ist Ausdruck einer Kapitulation von Teilen der bürgerlichen Intelligenz vor der als übermächtig angeschauten Gewalt der Monopolbourgeoisie. Es ist ferner Ausdruck der antikommunistischen Missachtung der Tatsache, [- 1973 -] dass die Sowjetunion und die ihrem Beispiel folgende sozialistische Ländergemeinschaft es sehr wohl fertiggebracht haben, die im Kapitalismus geschaffenen Produktivkräfte für die [zeitweilige] Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung [unzureichend] zu entfalten. Die Arbeiterklasse hat hier in der sozialistischen Revolution [vorübergehend] die vorgefundenen Produktivkräfte in Waffen gegen das Kapital verwandelt. Die genannte Ansicht ist schließlich Ausdruck des intelligenzlerisch-arroganten Unglaubens [- und zugleich der Entfremdung 1973gegenüber der gesellschaftspolitischen Realität – nicht nur – bei Otto Finger] an die Kraft der Arbeiterklasse. [2/195]

Eine bekannte marxistisch-leninistische Formel besagt: Die wichtigste Produktivkraft ist der Mensch. Genauer: der arbeitende Mensch. Wir haben gesehen, wie dieser historisch-materialistische Grundsatz in der „Deutschen Ideologie“ entwickelt wird: Marx und Engels betonen, dass die Produktivkräfte Kräfte der Individuen selbst sind. Die Betonung dieses Sachverhalts ist für die Begründung der Möglichkeit revolutionären Handelns sehr wesentlich. Wenn es nämlich Kräfte der arbeitenden Individuen selbst sind, dann haben sie prinzipiell auch die Möglichkeit, diese Produktivkräfte in ihrem eigenen Lebensinteresse zu bestätigen. Wie wir noch sehen werden, entsteht ja die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution daraus, dass sich die Produktivkräfte in Destruktivkräfteverwandeln. Sie können es, weil sie von den Individuen „entfremdet“, d. h. vom Kapital angeeignet, für seine Zwecke bewegt werden. Dies wiederum kann geschehen, weil das kapitalistische Eigentum herrscht [- auch in den Köpfen]. Theorie der Revolution ist unter diesem Gesichtswinkel Begründung von Notwendigkeit und Weg, die Produktivkräfte im umfassenden Sinne als Kräfte der arbeitenden Menschen selbst zu betätigen.

In der Arbeit „Das Elend der Philosophie“ nimmt Marx eine für die Theorie der Revolution ausschlaggebende Konkretisierung des eben genannten Grundsatzes vom Menschen als Produktivkraft vor: Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst.“ [3/196] –

Die marxistisch-leninistische Konzeption von den Produktivkräften umschließt damit als ein einheitliches Ganzes: die Produktionsmittel und die Menschen, die sie erzeugen und in Bewegung setzen, ihre technische und ihre menschlich-soziale Seite, ihre materiellen und ihre geistigen Elemente, den Aspekt der Schaffung und Entwicklung einer gegebenen Gesellschaftsformation mit dem Aspekt ihrer revolutionären Umwälzung durch eine gesellschaftliche Klasse.

Erst in dieser politischen Vollendung ist mit der materialistischen Grundlage der Bestimmung der Rolle und des Wesens der Produktivkräfte im Geschichtsprozess auch ihre dialektische Natur auf den revolutionären Begriff gebracht.

Es ist eine geläufige Einsicht des Marxismus, dass die Produktivkräfte das revolutionäre, vorwärtstreibende Element in jeder Produktionsweise sind. Es ist ebenso eine geläufige Einsicht, dass die Produktivkräfte, ihr Charakter, ihr Entwicklungsniveau letztendlich den Ausschlag geben für den Zustand und die Veränderung einer Gesellschaft: „Die Handmühle“, sagt Marx im „Elend der Philosophie“, „ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“ [4/ 197] Marx veranschaulicht mit diesem Bilde den geschichtsbestimmenden Vorgang, dass die Menschen mit der Schaffung und Erwerbung neuer Produktivkräfte ihre Produktionsweise und damit alle gesellschaftlichen Verhältnisse verändern.

Wird nun der zitierte Marxsche Gedanke vom Zusammenhang technisches Produktionsinstrument – soziale Verhältnisse vereinseitigt, außerhalb des im selben Werk formulierten Gedankens von der revolutionären Klasse als größter Produktivkraft gesehen, dann kann er sich sehr wohl in ein undialektisches und unhistorisches Schema verwandeln. Ein Schema, das dann verwendbar wird, um gegenrevolutionäre Ideologie zu verbreiten. Auch in ein Schema zur „Widerlegung“ des Marxismus selbst. Etwa in folgender Argumentationsweise: So wie die Handmühle (vorindustrielle Technik) den Feudalismus und die Dampfmaschine (Maschinerie der großen Industrie) den Kapitalismus ergibt, erzeugt die wissenschaftlich-technische Revolution (Automation, Computertechnik) eine „neue“ Gesellschaft, die kein „eigentlicher“ Kapitalismus mehr sei. Es sei dies eben „moderne“ Industriegesellschaft [analog dem kleinbürgerlich-manipulatorischen Ideologienonsens: “Soziale Marktwirtschaft“ und/oder “Sozialismus chinesischer Prägung“ etc. – ], keine „alte“, kapitalistische. Die „Handarbeit“ gebe hier ihre Rolle schon an die „Kopfarbeit“ ab, damit verschwinde das Proletariat, es komme zum Verschwinden der für den Kapitalismus typischen Klassenstruktur [ – und in “zwölf Generationen“ – im Jahr 2310 – ‘herrsche soziale Gleichheit’; siehe hierzu unter anderem auch die Veröffentlichungen der liberal-sozialdemokratischen Konvergenzpartei Chinas – zum Privateigentum an Produktionsmitteln – in der “Beijing Rundschau“ aus dem Jahr 2003/2004 – ] usf.

Eine andere Folgerung aus dem gleichen Vorgang lautet: Marx hat unrecht, die Produktivkräfte bewirken keine Veränderung der sozialen Verhältnisse. Der Kapitalismus besteht ja fort, obwohl sich in wenigen Dezennien radikalere Veränderungen der Produktivkräfte vollzogen haben als vordem in Jahrhunderten. –

Letztere Folgerung mündet dann wieder in zweierlei Ansichten, Die offenen [liberal-sozialdemokratischen Konvergenz-] Apologeten des Kapitalismus meinen, das sei gerade die notwendige Bestätigung für die Lebenstüchtigkeit des Kapitalismus als der besten aller möglichen sozialen Welten. Er überdaure die einschneidendsten Veränderungen der Produktivkräfte. Mitnichten werde er durch sie gesprengt.

Vielmehr transformiere er [der Kapitalismus, diverser idealistisch-ideologischer ‘Prägung’] sich jeweils so, dass er den Produktivkräften weiteren Spielraum brächte. Die andere Ansicht besagt: Der Kapitalismus sei zwar eine üble Ordnung, gezeichnet von Missständen, Unterdrückung, Brutalität aller Art. Nichtsdestoweniger aber bleibe er stabil, habe er es verstanden, alle ehedem revolutionären Kräfte, insbesondere die Arbeiterklasse in sich zu „integrieren. Und so werde doch alles beim alten bleiben, wenn nicht die Negation „von außen“ geschehe, z. B. durch die Revolution der Bauern, den Aufstand des Dorfes gegen die Städte, der „dritten“ Welt gegen die beiden Welten des Industrialismus, sowjetischer und US-amerikanischer Prägung. [– 1973 –] Letzteres predigt [predigte] Marcuse im konterrevolutionär antisowjetischen Einklang mit zeitgenössischen Trotzkismus und mit dem Maoismus.

Die skizzierten Fehlstandpunkte gehen – sofern sie im Regelfall in Form einer Marx-„kritik“ formuliert werden – an einer entscheidenden Seite der Marxschen Auffassung von den Produktivkräften vorbei: Sie übersehen, dass Marx die revolutionäre Klasse als entscheidende Produktivkraft gekennzeichnet hat. Erst hiermit erhält die so komplexe Frage der Produktivkräfte und der Aspekt ihres Schöpfertums wahrhaft weltgeschichtliche Dimensionen. Mit dieser Marxschen Bestimmung ergibt sich der Zugang zum vollen Verständnis des in dieser Darstellung schon vielfach berührten Leninwortes, wonach das Entscheidende an der Marxschen Lehre die Klarstellung der weltgeschichtlichen Mission des Proletariats als des Schöpfers der kommunistischen Gesellschaftsformation ist. Hierin, in der Schaffung des Kommunismus, in diesem noch nie dagewesenen geschichtlichen Avantgardismus, in diesem bislang umfassendsten und tiefgreifendsten Umbilden und Neuschaffen aller gesellschaftlichen Verhältnisse entfaltet sich die Produktivkraft einer gesellschaftlichen Klasse in der vollständigsten Gestalt. –

Zugleich macht aber der Marxsche Standpunkt klar: Es kann dies nur die weltgeschichtlich produktive Kraft der revolutionären Klasse sein. Das schließt ein: ist die revolutionäre Kampfkraft dieser Arbeiterklasse nicht entwickelt, dann kann sie nicht zum Schöpfer der neuen Ordnung werden. –

Es verdient in diesem Zusammenhang festgehalten zu werden, dass schon die „Deutsche Ideologie“ das Vorhandensein einer revolutionären Masse, genauer noch: die Bildung einer revolutionären Masse – womit im Keim der notwendige Akt des Heranbildens, des Organisierens dieser Masse angelegt ist – als unabdingbar erklärt, um die Idee der Revolution zu verwirklichen. Und das folgende Zitat ist von erstaunlicher Aktualität für die Kritik jenes Revoluzzertums der Gegenwart, das an den Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft vorbeizieht und gegen einzelne Symptome rebelliert. –

Karl Marx und Friedrich Engels betonen: „… wenn diese materiellen Elemente einer totalen Umwälzung, nämlich einerseits die vorhandnen Produktivkräfte, andrerseits die Bildung einer revolutionären Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige ,Lebensproduktion’ selbst, die ;Gesamttätigkeit’, worauf sie basierte, revolutioniertnicht vorhanden sind, so ist es ganz gleichgültig, ob die Idee dieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen istwie die Geschichte des Kommunismus dies beweist.“ [5/198]

Dass der Imperialismus alles versucht, um zu verhindern, dass die Arbeiterklasse sich zur revolutionären Tat erhebt, ist ebenso augenfällig wie die Tatsache, dass die Leugnung ihrer Kampffähigkeit der imperialistischen Absicht ideologische Schützenhilfe leistet. Auch ist es eine Binsenweisheit, dass das imperialistische Herrschaftssystem über ein – verglichen mit dem Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts [und 20. Jh.] – unerhört viel ausgedehnteres, gleichermaßen brutaleres und raffinierteres politisches und ideologisches Instrumentarium verfügt, um die Arbeiterbewegung von revolutionären Aktionen abzubringen, die Spaltung in sie hineinzutragen, die Arbeiterbürokratie zu korrumpieren usf. –

All das aber mindert nicht, sondern erhöht die Rolle der marxistisch-leninistischen Partei bei der ideologischen Erziehung und politischen Organisierung der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse wird also heute noch sehr viel weniger als im 19. Jahrhundert sich aus dem spontanen Prozess zur revolutionär aktiven Kraft emporheben können. Die krassen inneren Widersprüche der imperialistischen Gesellschaft allein bewirken noch nicht, dass die Arbeiterklasse eines gegebenen Landes zur größten revolutionären Produktivkraft wird. Sie ist es heute als {…} Arbeiterbewegung aller Erdteile.«

Anmerkungen

1/194 »Wir denken dabei an den folgenden wissenschaftlich-kommunistischen Grundsatz der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“: Kommunismus, das sei die vollständige, innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen geschichtlichen Entwicklung durchzusetzende, bewusste Vergesellschaftung des Menschen. Marx spricht in diesem Sinne von der „Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen“ innerhalb dieses ganzen Reichtums. Dass aber gleichwohl dies ein revolutionärer Sprung, eine Umwälzung der ganzen bisherigen Produktionsweise der Menschen ist, drückt Marx auf dem Boden der Entfremdungstheorie so aus, dass Kommunismus die „wahre Auflösung des Streits … zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung“ sei. –

Widerstreit zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung ist aber nichts anderes als dieses: Im Kapitalismus sind die vergegenständlichten Kräfte des Menschen, die objektivierten Fähigkeiten des tätigen Subjekts, nämlich die verwirklichten und betätigten Produktivkräfte der arbeitenden Individuen, weil vom Kapital angeeignet, zu fremden Mächten gegen die Individuen geworden. In diesem Sinne ist moderne Industrie des Kapitalismus, die in ihm entwickelte Technik und Wissenschaft alles andere als „Selbstbetätigung“ der arbeitenden Individuen, bewusstes, frei bestimmtes, schöpferisches Handeln

2/195 »Sehr umfassend ist auf die genannte schein- und gegenrevolutionäre Konzeption R. Steigerwald in der schon genannten Arbeit „Herbert Marcuses dritter Weg“ eingegangen.«

3/196 Karl Marx, Das Elend der Philosophie, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 181.

4/197 Ebenda, S. 130.

5/198 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 38 f.

Quelle: Philosophie der Revolution, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5. 27. Die vorgefundenen Produktivkräfte, die Produktivität der revolutionären Klasse und eine scheinrevolutionäre Denkweise, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

31.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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