Zur Umwälzung und Aufhebung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation

Philosophie der Revolution

von Otto Finger (1973)

Einleitung [Teil III]

»Lenin nahm ein knappes Jahr nach dem Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkrieges eine tatsächlich epochemachende Korrektur an den bis dahin in der Arbeiterbewegung herrschenden Vorstellungen über Eintritt und Verlauf der sozialistischen Revolution vor. In der Arbeit „Über die Losung der [revolutionär-emanzipatorisch] Vereinigten Staaten von Europa“ äußerte er erstmals den Gedanken, dass der Sieg des Sozialismus zunächst in einigen oder auch nur in einem für sich genommenen Lande möglich wäre. Dieser Gedanke darf deshalb epochemachend genannt werden, weil er einen entscheidenden Ausgangspunkt für die revolutionäre Strategie der Partei der Bolschewiki während des 1. Weltkrieges und den Sieg der Oktoberrevolution bildete. Von diesem Gedanken führt eine direkte Linie in die vor einem halben Jahrhundert [O. F., 1973] vollzogene Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des unerschütterlichen Bollwerks aller progressiven Bewegungen unserer Zeit, des Kraftquells aller antiimperialistischen und revolutionären Ströme der Gegenwart [1973]. –

Lenin korrigierte die – von Marx und Engels in der „deutschen Ideologie“ und in Engels’ „Grundsätzen des Kommunismus“ vertretene – Vorstellung, dass die sozialistische Revolution nur im Ergebnis der gleichzeitigen Erhebung des Proletariats aller entwickelten kapitalistischen Industrieländer siegen könne. –

Die Leninsche These beruht auf der Analyse der neuen gesellschaftlichen Vorgänge in der Periode des Imperialismus. Sie ist insbesondere ein Ergebnis der Untersuchung der sich im Imperialismus verschärfenden Tendenz zur ungleichmäßigen ökonomischen und politischen Entwicklung der einzelnen kapitalistischen Länder. Lenin begründet die Möglichkeit, dass die Kette der imperialistischen Länder an ihrem schwächsten Glied durchbrochen werden könne. Diese Möglichkeit wurde in der Oktoberrevolution verwirklicht. Ihre Entdeckung ist verbunden mit der Leninschen Analyse des Monopolkapitals, der sich unter seiner Herrschaft zuspitzenden Tendenz zu Krisen aller Art und zu imperialistischen Raubkriegen, zur politischen und ideologischen Reaktion auf der ganzen Linie.

Die Untersuchung der aggressiven und barbarischen Charakterzüge des imperialistischen Fäulnisstadiums des Kapitalismus fußt allerdings auf der Marxschen Kapitalismusanalyse. Der Imperialismus und sein herrschendes Verhältnis, das Monopolkapital, erweisen sich als Reproduktion der von Marx entdeckten Widersprüche – insbesondere des Widerspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung – auf höchster Stufenleiter.

Die genannte Leninsche Konkretisierung der Revolutionstheorie hat die Vertiefung der Marxschen Kapitalismuskritik durch die Imperialismusanalyse zur Voraussetzung. Nun werden wir freilich erkennen, dass diese beiden politökonomischen Säulen der Theorie der sozialistischen Revolution in ihren tiefsten Wurzeln bis auf eine Reihe philosophisch-theoretischer Erkenntnisse sehr früher Marxscher und Engelsscher Arbeiten zurückreichen. Zu ihnen zählen Engels’ „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ und Marx’ „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ (1844). In letzteren legt Marx den Keim auch für die später umfassend ausgeführte politisch-ökonomische Begründung der Notwendigkeit der Revolution in der Analyse der entfremdeten Arbeit.

In Gestalt der Entfremdungstheorie enthüllt Marx den unversöhnlichen und alle Lebensäußerungen der bürgerlichen Gesellschaft durchdringenden Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital. Er führt zwangsläufig zu jener Kollision zwischen den modernen Produktivkräften und den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, die nur in der revolutionären Beseitigung der letzteren aufhebbar ist.

Wir beschränken uns in unserem Buch jeweils auf das revolutionstheoretische Denken – und seine philosophischen Voraussetzungen – in der Phase der Herausbildung des Marxismus und des Leninismus, das sind die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts und die Periode von 1894 (dem Erscheinungsjahr von Lenins erster großer Philosophischer Arbeit, „Was sind die Volksfreunde …“) bis zum Beginn der russischen Revolution von 1905. Die vorstehend genannten historischen Ereignisse der Folgezeit und deren gedankliche Verarbeitung im theoretischen Werk der Klassiker werden freilich berücksichtigt, um Leistungen und Grenzen der Ideen aus der Entstehungszeit der revolutionären Philosophie der Arbeiterklasse sichtbar machen zu können. Die Werke aus der Frühzeit werden also auf dem Boden der vom „Manifest der Kommunistischen Partei“ eingeleiteten reifen Entwicklungsgeschichte des Marxismus, insbesondere aber der Leninschen Etappe des philosophischen Denkens dargestellt und bewertet.

Wir sprechen im Untertitel zu dieser Studie von der Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution. Es könnte gefragt werden, ob dies nicht eine einigermaßen unhistorische Redeweise sei. Zwischen den Anfängen der revolutionären Lehre von Karl Marx und der Herausbildung des Leninismus läge doch ein halbes Jahrhundert, angefüllt mit tiefgreifenden sozialen Veränderungen, gewaltigen Klassenkämpfen, riesigen Fortschritten von Wissenschaft und Technik. Lenin begann sein theoretisches Werk, als sich der Schwerpunkt der revolutionären Arbeiterbewegung von Westeuropa nach Russland verlagerte und der Kapitalismus in sein imperialistisches Verfallsstadium eingetreten war.

Tatsächlich zielen wir auf die Klärung des folgenden, theoretisch ganz entscheidenden und in den weltanschaulichen Parteienkämpfen, in den Auseinandersetzungen zwischen Marxisten-Leninisten und modernem Revisionismus heftig umstrittenen Sachverhalt ab: Auch in puncto sozialistische Revolution, in den grundlegenden Aussagen über ihre weltgeschichtliche Notwendigkeit, ihre objektiven Bedingungen und subjektiven Faktoren, besteht eine innere, organische Einheit zwischen Marxismus und Leninismus. Der Marxismus-Leninismus bildet ein einheitliches weltanschauliches und ideologisches Ganzes nicht zuletzt kraft seiner einheitlichen, theoretisch in sich geschlossenen Theorie der sozialistischen Revolution.

Lenin erwies sich als genialer Fortsetzer der Marxschen [analog Engelsschen] Lehre, indem er deren revolutionäre Grundideen gegen den Opportunismus der II. Internationale verteidigte und gemäß den neuen gesellschaftlichen Bedingungen weiterentwickelte. Wir wollen dies durch eine Reihe von Hinweisen auf die leninistische Lösung bestimmter revolutionstheoretischer Fragen in den ersten 6 Kapiteln verdeutlichen, vor allem aber durch den Versuch des 7. Kapitels, einige der wichtigsten philosophischen und revolutionstheoretischen Leistungen Lenins aus dem ersten Jahrzehnt seines theoretischen Wirkens darstellen. Das Studium solcher Leninscher Arbeiten wie derjenigen zur Volkstümlerkritik, zur Kritik des legalen Marxismus Peter Struves („Über den ökonomischen Inhalt der Volkstümlerrichtung“), zur Grundlegung der Partei neuen Typs („Was tun?“), zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen bürgerlich-demokratischer und sozialistischer Revolution und der Strategie und Taktik der Arbeiterpartei in ihnen („Zwei Taktiken der Sozialdemokratie“) zeigt: Die Leninsche Weiterentwicklung der Philosophie der Arbeiterklasse und ihrer wissenschaftlichen Lehre von der Revolution basiert auf der konsequenten Verteidigung der geschichtlich bestätigten Grundsätze von Karl Marx und Friedrich Engels. –

Weder hat Lenin den Marxismus „russifiziert“, noch hat er ihm eine Wendung ins „voluntaristische“ gegeben oder den ursprünglichen Marxschen Humanismus „versachlicht“, politischer Pragmatik aufgeopfert. Mit solchen und ähnlichen Etikettierungen versucht zeitgenössischer Antileninismus aus offen imperialistischem und revisionistischem Lager einen vorgeblichen Bruch zwischen Marxismus und Leninismus zu konstruieren und damit der ungebrochenen politischen Sprengkraft der marxistisch-leninistischen Lehre von der Revolution entgegenzuwirken. Sie soll entweder als ein Resultat der Bedingungen des 19. Jahrhunderts erscheinen, die längst nur mehr geschichtlich vergangene seien. Oder aber sie soll in ihrer modernen leninistischen Gestalt als eine Sache der russischen Entwicklung, bestenfalls noch ehemals kolonial unterdrückter Länder, keineswegs aber als aktuell für die sog. moderne Industriegesellschaft erscheinen. Die Kenntnis allein der von uns hier vorrangig berücksichtigten Arbeiten aus den ersten Schaffensperioden Lenins zeigt:

Der Leninismus, das ist das gerade Gegenteil einer wie auch immer gearteten nationalistischen Vereinseitigung der revolutionären Theorie. Vielmehr entstand und entwickelte er sich als internationalistische [internationale] Doktrin, beantwortet er Fragen, die der internationale Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit in der Periode des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen stellt, ist er die adäquate theoretische Basis, auf der sich der revolutionäre Weltprozess unseres Zeitalters entwickelt.

Der Leninismus ist nicht „Voluntarismus“, hat nicht das geringste zu tun mit einer subjektiv-idealistischen Aufblähung des Willens einzelner Persönlichkeiten oder sozialer Gruppen zur Geschichte und Revolutionen „machenden“ Instanz. Vielmehr verteidigt Lenin im rigorosen Gegensatz zu allem Subjektivismus und Fideismus die Marxsche historisch-materialistische Grundidee von der Gesellschaft als einem naturgeschichtlichen Prozess. Lenin ist konsequenter, materialistisch-dialektischer Determinist.

Und der Leninismus ist schließlich eine konsequente Fortbildung des authentischen Marxschen Humanismus, eines Humanismus, der absolut nichts gemein hat mit einer ins Überhistorische verwaschenen Entfremdungstheorie, einer über den kämpfenden Klassen schwebenden Anthropologie. Es ist ein Humanismus der revolutionären Tat, konkret-historisch bestimmt durch Lebensinteresse und Ethos der Arbeiterklasse, in seinem Inhalt geprägt durch Erfüllung ihrer welthistorischen Mission als der Erbauerin des Kommunismus.

Es scheint die Frage berechtigt, ob denn Ideen, die den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstammen, wie im Falle der Begründung der Theorie der sozialistischen Revolution durch Karl Marx und Friedrich Engels, oder Ideen, die um die Jahrhundertwende [vor und nach 1900] entwickelt wurden, wie im Falle des Entstehens des Leninismus, noch nach mehr als sieben Jahrzehnten [- 1973 – 2012 -] oder gar nach mehr als ein und einem viertel Jahrhundert von aktueller Bedeutung sein können. In diesen Zeiträumen hätten sich die Einzelwissenschaften, vor allem die Natur- und die technischen Wissenschaften in immer rascherem Tempo entwickelt. Was in der Physik noch vor ein oder zwei Jahrzehnten als gesicherte Lehrmeinung gegolten habe, sei heute überholt. Wenn die marxistisch-leninistische Theorie der Revolution wissenschaftlich ist, dann muss sie doch diesem gleichen Gesetz des Fortschritts unterliegen. In der Tat unterliegt sie diesem Gesetz; die Erkenntnisfortschritte der marxistisch-leninistischen Theorie – eingeschlossen ihre strategischen und taktischen Grundsätze für den revolutionären Kampf gegen den Imperialismus, für die [emanzipatorisch-] revolutionäre [- zukünftige -] Errichtung des Sozialismus und den Aufbau des Kommunismus unter den heutigen [- künftigen -] Bedingungen und den abschätzbaren Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung – schlagen sich nieder in den Führungsdokumenten der marxistisch-leninistischen Parteien, allen voran der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, [O. F., 1973] in den Dokumenten ihrer internationalen Beratungen und Parteitage. –

Aber selbstredend wirft sie deshalb nicht bewährte, in den Klassenkämpfen unserer Zeit tausendfältig erprobte Prinzipien über Bord, sondern sie verteidigt sie, bereichert sie um neue Züge. [1973] Gerade das hat sie mit jedem Entwicklungsfortschritt auch in den Einzelwissenschaften gemein. Ebenso versteht es sich, dass manche neuen Fragen des revolutionären Weltprozesses auftauchen, die nicht ohne weiteres bloß durch die Bereicherung bewährter Prinzipien gelöst werden können, sondern auch ganz neue Antworten verlangen. Musterbeispiele ihrer modernen marxistisch-leninistischen Lösung geben die theoretischen Dokumente der KPdSU, ihr Herangehen an die Probleme des kommunistischen Aufbaus unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution, der ökonomischen Integration der [real-]sozialistischen Staatengemeinschaft, des antiimperialistischen Kampfes heute, an neue Fragen des Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz, an die Durchsetzung der gesellschaftlichen Führungsrolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei, an die Vervollkommnung der Wirtschaftsleitung, der Tätigkeit des [real-] sozialistischen Staates, und andere Fragen. Sie alle aber hängen mittelbar oder unmittelbar mit der [schöpferischen] Anwendung und Weiterentwicklung [der realen Wechselwirkung zwischen] der Theorie [und Praxis] der sozialistischen Revolution und kommunistischen Umwälzung zusammen. Einige der genannten Fragen berührt unsere Studie [1973] anhand von theoretischen Dokumenten der KPdSU und der SED.«

[Auszug]

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl. Einleitung. [Teil III von IV]

20.08.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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