Materialistisch-dialektischer Begriff der Produktivkräfte

von Otto Finger

Im Begriff der Produktivkräfte sind zunächst solche Elemente zusammengefasst, von denen in der bisherigen Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft schon mehrfach die Rede war: Die Produktionsinstrumente und Produktionsmittel. Marx und Engels unterscheiden, wie wir uns erinnern, „naturwüchsige“ Produktionsinstrumente von gesellschaftlich produzierten. Erstere sind zum Beispiel die vorgefundenen Naturkräfte, wie Erde, Wasser, Luft, Bodenschätze. Letztere – und sie stehen im Mittelpunkt der Untersuchung – sind die Werkzeuge, die Maschinen, die vom Menschen geschaffenen Arbeitsmittel. Zu ihnen zählt aber auch die Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation, wie sie mit der Industrie entwickelt wird. Ferner zählt zu ihnen, zu den produktiven, den hervorbringenden, schöpferischen Kräften des Menschen, wie Engels schon in den „Umrissen zur Kritik der Nationalökonomie“ und Marx in den „Manuskripten“ andeuten, die Wissenschaft.

Naturwissenschaft und Entwicklung der materiellen Produktion sind unlösbar miteinander verbunden. Die Produktion erzeugt die materiellen Voraussetzungen für die Wissenschaftsentwicklung, weckt Bedürfnisse nach wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen, bestimmt Entwicklungsrichtung, Ziele, Anwendungsmöglichkeiten. So entstanden und vorangetrieben ist aber die Wissenschaft selbst eine aktive, nicht wegzudenkende Kraft in der Bewegung der Produktion. Marx und Engels betonen in diesem entwicklungsgeschichtlich-dialektischen Sinne einmal – gegen die idealistische Verabsolutierung der Wissenschaft und Theorie überhaupt gewandt –: Selbst diese ,reine’ Naturwissenschaft (es war vorher von Geheimnissen die Rede, die sich dem Physiker und Chemiker offenbaren; O. F.) erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen.“ [1/181] –

Zum anderen weisen sie darauf hin, wie eine bestimmte Periode der Entwicklung der Produktion nur in Einheit mit der Naturwissenschaft begriffen werden kann. So stellen sie von der oben behandelten zweiten Periode im Entwicklungsgang der kapitalistischen Produktionsweise (derjenigen, in der Handel und Schifffahrt eine dominierende Rolle spielen) fest: „Diese Periode beginnt mit den Navigationsgesetzen und Kolonialmonopolen.“ [2/182] –

Zu den Bedingungen der dritten, also der industriellen zählen Marx und Engels – neben ausgedehnter Arbeitsteilung, Maschinerie und Anwendung von Elementarkräften für industrielle Zwecke – ausdrücklich die Ausbildung der theoretischen Mechanik; die durch Newton vollendete Mechanik sei im 18. Jh. in England und Frankreich die populärste Wissenschaft gewesen. [3/183] Im „Kapital“ wird von der Maschinerie, dem typischen Produktionsinstrument der großen Industrie als spezifische Besonderheit hervorgehoben: „Als Maschinerie erhält das Arbeitsmittel eine materielle Existenzweise, welche Ersetzung der Menschenkraft durch Naturkräfte und erfahrungsmäßiger Routine durch bewusste Anwendung der Naturwissenschaft bedingt.“ [4/184] –

Den generellen Zusammenhang von Industrie und Naturwissenschaft sowie die aktive historische Rolle der letzteren charakterisiert Marx schon in den „Manuskripten“ wie folgt: Die Naturwissenschaft habe mittels der Industrie kraftvoll und praktisch in das menschliche Leben eingegriffen, sie habe das menschliche Leben umgestaltet. Ja, die Naturwissenschaft sei sogar eine Basis für das menschliche Leben geworden, sie bereite die menschliche Emanzipation mit vor, sosehr sie freilich zunächst, innerhalb der kapitalistischen Entfremdungsverhältnisse, die „Entmenschlichung“ vervollständige. [5/185]

Die marxistische Bestimmung der Produktivkräfte ist also schon in dem Sinne eine materialistisch-dialektische, dass sie die Wechselbeziehung von materiellen und geistigen Kräften einbegreift. Selbstredend innerhalb des Primats der materiellen Bedingungen und Prozesse. Die Betonung dessen und das Herausheben der Marxschen Ideen über die tiefgreifende gesellschaftliche Wirkung der Naturwissenschaft geschieht hier auch mit dem Blick auf folgenden Prozess: Die Naturwissenschaft, als Wissenschaft von Naturgesetzen, zeitigt produktive Wirkungen für das menschliche Leben, hat einen nicht wegzudenkenden Anteil an seinen Umgestaltungen. Sie ist eine Produktivkraft.

Selbstredend gilt auch: Die Gesellschaftswissenschaft, Wissenschaft von den gesellschaftlichen Gesetzen – und der Marxismus-Leninismus ist das Kernstück aller gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen – zeitigt die tiefgreiendsten sozialen Wirkungen. –

Der [künftige Real-] Sozialismus wird aufgebaut mittels bewusster Anwendung der vom Marxismus-Leninismus entdeckten gesellschaftlichen Gesetze. Die Gesellschaftswissenschaft wird so zur Produktivkraft, einer geistigen Kraft, die durch das Handeln der [differenziert wissenschaftlich-technischen/technisch-wissenschaftlichen] Arbeiterklasse und aller Werktätigen beteiligt ist an der Hervorbringung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse. Und an der Hervorbringung dieser neuen gesellschaftlichen Verhältnisse ist in der ganzen Epoche der revolutionären Umwälzung des Kapitalismus die Theorie der Revolution beteiligt: Indem sie zur Richtschnur für das revolutionäre Handeln der Arbeiterklasse wird, verwandelt sie sich in eine materielle Gewalt und gesellschaftliche und politisch schöpferische Kraft.

Der Mensch macht seine Geschichte. Am Anfang aller geschichtlichen Veränderungen steht der Mensch. Dieser Grundsatz wird nicht preisgegeben, wenn geschichtliche Prozesse in die dialektische Bewegung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gefasst werden. Etwa in der Weise, dass hinter den sachlichen Produktionsinstrumenten der „leibhaftige“ Mensch in den Hintergrund trete. In der Tat hieße dies einen solch hirnlosen „Materialismus“ vertreten, der den Wald vor lauter Bäumen nicht sähe. Dem also entgehen würde, dass Produktionsinstrumente, Werkzeuge, Maschinen, Fabriken Menschenwerk sind, selbst Arbeitsprodukte, vom Menschen geschaffen, um zu produzieren. –

Der genannte Vorwurf gegen den Marxismus taucht in existentialistischen und revisionistischen Marxfälschungen tatsächlich auf. Zum Beispiel in der Form, dass gesagt wird: In der Kategorie Produktivkräfte überwögen die sachlichen, dinglichen Momente. Ferner: Sie sei zu abstrakt, um das ganze oder „eigentliche“ Wesen des Menschen zu erfassen. Vor allem erfasse sie nicht die Freiheit, die Wertbegriffe, die Moral des Menschen. Solchen und ähnlichen Argumenten begegnen wir bei Sartre und Kolakowski. In der Tat ist die Kategorie in dem Sinne ein abstrakter Begriff, soweit sie aller menschlichen Tätigkeit gemeinsame, aber auf jeder historischen Stufe und beim konkreten Individuum höchst unterschiedliche Elemente zusammengefasst. Keineswegs aber abstrakt im Sinne außersubjektiver und außermenschlicher Kräfte, wobei die Herkunft aus menschlicher Praxis verwischt würde. Im Gegenteil: diese Kategorie führt in das Zentrum des menschlich-geschichtlich Wesentlichen. Sie ist notwendig, um das Maß an Freiheit als Herrschaft über Natur– und Gesellschaftsprozesse bestimmen zu können. Und noch konkreter: Die Begründung sozialistischer Freiheit geschieht in der [künftigen] Praxis gerade durch eine solche Entwicklung und einen solchen Einsatz der Produktivkräfte, die die Freiheit für die Werktätigen überhaupt erst möglich macht. –

Allerdings bedarf es hierzu eines Verständnisses der Kategorie Produktivkräfte, das von technizistischen Einseitigkeiten frei ist. Und auch über Werte und moralischen Normen lässt sich, losgelöst von den Produktivkräften, nichts Objektives ausmachen. Ganz generell deshalb nicht, weil das, was als Wertbegriff ausgedrückt wird – etwa der Reichtum der Individualität, der Reichtum ihrer schöpferischen Talente und Fähigkeiten –, gerade die in den materiellen und geistigen Produktivkräften objektivierten Fähigkeiten des Menschen sind. –

Im übrigen bestimmen sich Wertvorstellungen und moralische Normen auf der Basis der Klassenlage, der Klasseninteressen. Damit ist nicht etwa alles gesagt, was über Werte und Moral zu entwickeln wäre; wohl aber eine elementar notwendige Voraussetzung für jede Ethik, jede Moraltheorie, jede empirische Untersuchung der auf diesem Gebiet sich entwickelnden ideologischen Beziehungen.

Entgegen der angedeuteten Fehlinterpretation der Kategorie Produktivkräfte ist darum festzuhalten: Ihre Entwicklungsgeschichte wird bestimmt als „… die Geschichte der Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst.“ [6/186] Der Mensch ist Schöpfer seiner Geschichte, das heißt nunmehr konkreter: Er macht seine Geschichte, indem er seine Produktivkräfte entfaltet.

Aber – und das ist gegen eine antimaterialistisch-subjektivistische Verfälschung der Kategorie Produktivkräfte herauszuheben – die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Produktivkräfte ist eine Geschichte der Naturaneignung. Die außerbewusste und vom Menschen unabhängige Natur ist hierfür ebenso vorausgesetzt wie die biologische Natur des Menschen selbst. Gewiss: Die marxistisch-leninistische Auffassung von den Produktivkräften ist eine Theorie menschlichen Schöpfertums, menschlicher Aktivität. Aber sie ist kein Schöpfermythos. Sie ist rigoros und konsequent antitheologisch und antiidealistisch.

Karl Marx und Friedrich Engels setzten die objektive Natur und die biologischen Bedürfnisse des Menschen so selbstverständlich voraus, dass sie sie bei der Begründung des historischen Materialismus für keiner näheren Erörterung bedürftig halten. Freilich mussten sie „bei den voraussetzungslosen Deutschen“, d. h. bei den spekulativen Idealisten, die von den Naturbedingungen abstrahieren, damit anfangen, dass sie die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz und aller menschlichen Geschichte konstatieren: lebendige Menschen, „menschliche Leiber“ und deren Bedürfnisse. –

Dazu gehört Essen, Trinken, Kleidung, Behausung. Und die erste geschichtliche Tat ist die Erzeugung der Mittel für die Befriedigung dieser Bedürfnisse. Die Bedürfnisbefriedigung erzeugt neue Bedürfnisse. Die Menschen pflanzen sich fort und erzeugen das Familienverhältnis zwischen Mann und Weib [Weib und Mann], Eltern und Kindern. Diese ganze Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens kann nur geschehen durch das Zusammenwirken mehrerer Individuen: Geschichte ist Geschichte des gesellschaftlichen Handelns und Produzierens

Anmerkungen

1/181 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 44.

2/182 Ebenda, S. 58.

3/183 Vgl. ebenda, S. 59. »An einer anderen Stelle des 1. Kapitels der „Deutschen Ideologie“ werden die Erfindungen zu den Produktivkräften gezählt. Es hänge von der Ausdehnung des Verkehrs ab, „… ob die in einer Lokalität gewonnenen Produktivkräfte, namentlich Erfindungen, für die spätere Entwicklung verlorengehen oder nicht.“ (Ebenda, S. 54.)«

4/184 Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, S. 407.

5/185 Vgl. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 543.

6/186 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 72.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.25. Materialistisch-dialektischer Begriff der Produktivkräfte, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

28.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

//