Karl Marx über typische Zustände der kapitalistischen Gesellschaft und ein heutiges bürgerliches Fehlurteil über Marx’ Aktualität

Von Otto Finger

Die Betonung des Schlusssatzes im vorherigen Abschnitt verlangt nicht allein die spätbürgerliche Verfälschung der „Manuskripte“ als eines Werkes abstrakter Anthropologie und abstrakten Humanismus, sondern auch das ebenso falsche Vorgehen, den proletarischen Klassenstandpunkt dadurch zu verdecken, dass die „Manuskripte“ bloß als eine unter anderen Geschichtsphilosophien erscheinen, in ihnen nach einer oder der Philosophie von Geschichte überhaupt gesucht wird.

Klaus Hartmann spricht in „Die Marxsche These“ (1970) von einer „Konjunktur“ der Marxschen Frühschriften nach dem zweiten Weltkrieg. In „einigen östlichen Ländern“ habe der junge Marx ein „Refugium vor dem offiziellen Marxismus“ dargestellt und doch den „Kommunismus anzuerkennen“ gestattet. [1/38] Hartmann spricht also von der revisionistischen Marxverfälschung, worin fehlinterpretierte Stücke der „Manuskripte“ gegen das politisch durchgeführte und leninistisch weiterentwickelte Ganze des Marxismus mobilisiert werden. Für diese Seite der neuerlichen „Aufwertung“ von Marx sei die Betonung eines anthropologischen Marx charakteristisch. Dies aber sei eine zu vordergründige und einseitige Sicht. Worauf es ankäme, sei ein Hinausgehen sowohl über die im Anthropologischen steckenbleibende Marxrezeption als auch über die „Metaphysik“ des dialektischen und historischen Materialismus. Der „neue Marx“, an den Hartmann heranführen will, sei für Philosophie unter dem folgendem Motto interessant: Theorie der gesellschaftlichen und historischen Praxis.

Die Angriffsrichtung dieses Ausgangspunktes – vorrangig ein hegelianisierendes Fortspinnen der Fragestellungen K. Korschs und G. Lukacs’ zur Theorie–Praxis–Dialektik sowie der idealistischen Theorien der „Praxis“-Philosophie – wird hier, bei einem Vertreter offizieller bürgerlicher Schulphilosophie [2/39], sehr viel deutlicher genannt als bei den meisten seiner revisionistischen Gewährsleute und Mitstreiter: „Der historische Materialismus wird nunmehr von einer philosophischen Vorentscheidung zu einem Fragestück, wird in seiner Fassung an der Praxis orientiert und in der Theorie flexibel; der dialektische Materialismus tritt als schlechte Philosophie ganz zurück.“ [3/40] Der Hauptakzent sei auf Marx’ Lehre „als sich selbst begründenter transzendentaler Theorie“ zu legen. [4/41] Zu überschreiten sei „soziologische und politische Positivität“, zu widersprechen sei dem Plädoyer für Geschichte und Geschichtlichkeit. Was die „Manuskripte“ angebahnt hätten, sei wesentlich eine „allgemeine Anthropologie der Praxis“ [5/41], verflochten mit Ökonomiekritik und Wirklichkeitskritik.

Der wirkliche Entwicklungsgang der Theorie von Marx wird mit dem Effekt ihrer Aushöhlung zu einer kritischen Theorie als Theorie schlechtweg, eben das Empirische, konkret-soziale, klassenmäßig, politisch Bestimmte „transzendierend“, umgekehrt. Das Proletariat, seine wirkliche Stellung in der kapitalistischen Produktion, die wirklichen Widerspruchsverhältnisse erscheinen als vernachlässigbares Substrat für Theoriebildung. Ja, selbst Marx’ Vordringen zum Proletariat wird hier in spekulativ-idealistischer Weise als Nebenprodukt eines immanent theoretisch-philosophischen Vorgangs mystifiziert. Im Gegensatz zu einer politischen Leitlinie der frühen Texte selbst, eben dem Begründen der historisch-revolutionären Rolle des Proletariats, im Gegensatz zu Marx’ Selbstzeugnissen über das tatsächliche Verhältnis zwischen Politik, Ökonomie und Philosophie im Entwicklungsgang der wissenschaftlichen Weltanschauung [6/43] erscheint bei Hartmann Marx’ Erkenntnis der Mission der Arbeiterklasse so: „Die Bevorzugung des Proletariats schon in unserem Text (der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“; O. F.), und von nun an immer (!) bei Marx – gegenüber einer Bezugnahme auf eine konkret(!), mehr oder weniger pluralistische Gesellschaft oder auf eine allgemeine realistische (!) Anthropologie des Menschen als Praxis, gegebenenfalls auch unvollkommener Praxis – kann zunächst als der formale Gedanke angesehen werden, bis zum Extrem der begriffslosen Wirklichkeit zu gehen, um dieses mit seinem anderen Extrem, dem Gedanken, zu konfrontieren und dann zu vermitteln.“ [7/44] Es ist hier nicht der Ort, diese Art der Verflüchtigung des realen Inhalts der frühen Marxschen Ansätze des dialektischen und historischen Materialismus in eine begriffsdialektische Bewegung und Gegenbewegung von Philosophie zu unphilosophischer Wirklichkeit, von „philosophieverseuchter“ Wirklichkeit zu universeller Emanzipation näher zu untersuchen. Hartmann vermerkt im zitierten Zusammenhang, dass mit seiner Überlegung das „Suggestive der Illustration“, das Geschichtliche und Aktuelle „der Wahl des Proletariats für die genannte theoretische Rolle“ nicht unterschätzt werden dürfe. Immerhin sei dies ja „für viele“ das zureichende Moment für den vollzogenen Schritt der Theorie. Freilich ein „populäres“ Moment. [8/45] Das materialistische, konkret-historische, konkret-soziale Bestimmen der Triebfedern Marxscher Theorieentwicklung aus der Praxis der proletarischen Bewegung, der objektiven Widerspruchsdialektik von Arbeit und Kapital, soll mit dem Attribut „populäres Moment“, „populäre Ansicht“ als vereinfacht, unterhalb der anspruchsvollen spekulativ-idealistischen Mystifikation von Marx durch seine bürgerlichen Interpreten erscheinen.

Im Grundsätzlichen bedarf solches idealistisches Fehldeuten keiner näheren Widerlegung. Denn dies ist in der ganzen langen Tradition marxistisch-leninistischer Analyse von Philosophie und Kritik von bürgerlicher Ideologie erwiesen: Idealismus ist untauglich zur wissenschaftlichen Erklärung welcher ideellen Bewegung auch immer, gerade weil er ihren wirklichen Vermittlungszusammenhang mit der gesellschaftlichen Realität prinzipiell verfehlt.

Unser Bezug auf Hartmann, eine extreme, beispielsweise über Jürgen Habermas’ vorgeblich „weiche“ Version von historischen Materialismus [9/46] in begriffsdialektischer Manier hinausgehende Marxmystifikation soll hier nur dies verdeutlichen: Auch angesichts des nur noch schwer durchschaubaren Dschungels heutiger spätbürgerlicher Varianten der Fehldeutung von Marx – deren allgemein theoretischer Grundzug antiproletarischer Idealismus ist – wird das Festhalten und Verdeutlichen der ganz ursprünglichen, unübersehbaren, ausschlaggebenden Parteinahme für das Proletariat erneut aktuell.

Ihren Ausdruck findet diese politische, klassenmäßige Triebfeder der Marxschen Theorieentwicklung in den „Manuskripten“ in dem, was Ausgangspunkt vorstehenden Überlegungen war, nämlich der Untersuchung dreier typischer Zustände der kapitalistischen Gesellschaft in den Konsequenzen für das Proletariat. Den ersten Hauptzustand und die Lage des Arbeiters in ihm kennzeichnet Marx so: „Ist der Reichtum der Gesellschaft im Verfall, so leidet der Arbeiter am meisten, denn: Obgleich die Arbeiterklasse nicht so viel gewinnen kann als die der Eigentümer im glücklichen Zustand der Gesellschaft, aucune ne souffre cruellement de son déclin que la classe des ouvriers“ (leidet keiner grausamer unter ihrem Verfall als die Arbeiterklasse). [10/47]

Als zweiten untersucht Marx den Zustand, worin der Reichtum fortschreitet. Obzwar für den Arbeiter der einzig günstige Zustand, weil in ihm die Nachfrage nach Arbeitern ihre Zufuhr überschreitet, ergeben sich diese Folgen:

Einmal führt die Erhöhung des Arbeitslohnes zur Überarbeitung; die Möglichkeit, mehr zu verdienen, treibt zur Aufopferung von immer mehr Zeit, und schließlich vollziehen die Arbeiter „vollständig aller Freiheit sich entäußernd im Dienst der Habsucht Sklavenarbeit“ [11/48]. Dadurch aber kürzen sie ihre Lebenszeit, was für die Arbeiterklasse im Ganzen ein günstiger Umstand sei, weil hierdurch neue Zufuhr nötig werde: „Diese Klasse muss immer einen Teil ihrer selbst opfern, um nicht ganz zugrunde zu gehn.“ [12/49]

Fragt man angesichts solcher, die Barbarei des Kapitalismus bis an den ökonomischen Nerv treffender Sätze des jungen Marx, wie denn in der revisionistischen und spätbürgerlichen Literatur von allgemeiner Anthropologie, klassendifferenter Subjekt-Objekt-Dialektik als dem Wesentlichen der „Manuskripte“ die Rede sein könne, so fällt die Antwort nicht schwer: Es ist Fälschung, gespeist aus Parteinahme für bürgerliche Ideologie und ihrer antisozialistischen, gegen die Arbeiterklasse und ihre Interessen gerichteten Kern. Ganz sicher gilt: Die gebührende Berücksichtigung solcher Sätze, wie der über den in der Tat für die Arbeiterklasse „todbringenden“ Widerspruch zwischen fortschreitendem Reichtum auf dem einen Pol und seiner Voraussetzung, der Überarbeitung, auf dem anderen, dies ist unverträglich mit der Apologie der kapitalistischen Gesellschaft. Die ganze Marxologie aber ist ja – im großen und ganzen betrachtet – nur ein , freilich r sehr ausgedehnter Zweig der Rechtfertigungsbemühungen sogenannter Geisteswissenschaften und Sozialphilosophien um den Kapitalismus. Dass der Marxsche Satz, wonach die proletarische Klasse immer einen Teil ihrer selbst opfern muss, um nicht zugrunde zu gehen, noch immer gilt, beweisen solche Prozesse wie die folgenden: die ständige Zunahme der Unfälle in den Betrieben des hochentwickelten Kapitalismus, die wachsende Frühinvalidität und nicht zuletzt die durch Profitwirtschaft erzeugte Umweltverschmutzung. (Wir hatten bürgerlich-ideologische Antworten auf diese Probleme im 1. Kapitel erörtert.) Letzteres ist eine besonders augenfällige Konsequenz vom sogenannten „Wohlstandskapitalismus, unter dem selbstredend die eigentumslosen Proletarier am meisten zu leiden haben, weil sie ihr am schutzlosesten ausgeliefert sind. Ganz zweifellos gehört dies zu den modernen Erscheinungsformen der von Marx enthüllten Widerspruchstendenz zum sich mehrenden Reichtum.

Festgehalten sei daher auch, dass Marx im Zusammenhang mit der Analyse des Profits von der „allgemeinen Vergiftung, wie sie in großen Städten sich zeigt“, spricht. [13/50] Wen betraf und wen betrifft heute diese allgemeine Vergiftung am brutalsten? Die Massen der arbeitenden Menschen, diejenigen, die sich nicht, wie die für die Vergiftung Verantwortlichen, die Millionäre und Milliardäre, ihrem Zugriff entziehen können! Diejenigen, die nicht die Behausungen vergifteter Industriestädte vertauschen können mit den unter Einsatz aller modernen Technik geschaffenen Oasen giftfreier Luxusvillen und Paläste.

Alfred Schmidt stellt im Nachwort zu einer Neuausgabe seiner Studie über den „Begriff der Natur in der Lehre von Marx“ fest: „Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Gesellschaft immer bedrohlichere Ausmaße annimmt, lesen sich auch die Marxschen Frühschriften anders …,Resurrektion der Natur’, ,Humanisierung der Natur, Naturalisierung des Menschen’ – das sind heute keine Ausgeburten eschatologischer Phantasie mehr. Von ihrem Gelingen hängt es ab, ob die Menschheit in einen vernünftigen Zustand eintritt, ja ob sie überlebt.“ [14/51] –

Die Aktualität der Marxschen Einsichten über die Entfremdung von Mensch und Natur liegt nicht schlechtweg darin, sie ökonomisch-theoretisch aufgehellt zu haben. Sie liegt konkreter darin, historisch bestimmte Eigentums- und Produktionsverhältnisse, als Basis dieser Entfremdung, eine historisch bestimmte und revolutionär überwindbare Klassenherrschaft, die der Kapitalisten, als Grund hierfür nachgewiesen zu haben. –

Das aber ist etwas ganz anderes als industrielle Produktion, hochentwickelte gesellschaftliche Arbeit schlechtweg, moderne Technik und Zivilisation überhaupt. Ganz und gar nicht lässt sich deshalb behaupten, Marx habe sich mit einem „Übergang zur politischen Ökonomie“, der „teuer erkauft wurde“, mit einem bei Marx vorgeblichen Fortwirken „idealistischer Hybris“, dass nämlich „das Seiende nichts an sich, sondern bloßes Material für Praxis sei“, dieser Marx also habe sich „ungewollt zum Komplicen eben der Tendenz gemacht, gegen die sein Werk steht“. [15/52] Soll damit etwa der absurde Vorwurf gegen Marx formuliert sein, mit der Entdeckung der entscheidenden Rolle der Arbeiter in jedem Geschichtsprozess die durch den Kapitalismus bewirkte Gefahr der Vernichtung der Lebensgrundlagen der menschlichen Gesellschaft befördert zu haben? So, als habe Marx selbst jene Geister der imperialistischen Barbarei mit heraufbeschworen, die heute so schwer zu bändigen sind? Solch groteske Verdrehungen sind allerdings möglich, wenn Marx’ Klassenanalyse der kapitalistischen Verhältnisse, sein proletarischer Klassenstandpunkt umgefälscht wird in eine Theorie von Praxis, Arbeit und Produktion schlechthin.

Auch bezogen auf A. Schmidts Marxdeutung zeigt sich, wie aktuell für heutige philosophische Auseinandersetzung um Marx’ Theorie und ihren revolutionär-kritischen Grundgehalt die Rückbesinnung auf den proletarischen Klassenstandpunkt der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ ist.

Bereits in der Analyse des für die Arbeiter vergleichsweise günstigsten Zustandes der kapitalistischen Gesellschaft, also bei fortschreitendem Reichtum, gelangt Marx zu folgendem, für den proletarischen Klassengehalt und die politische Grundtendenz der ganzen Marxschen Entfremdungstheorie entscheidenden Resultat:

Fortschreitender Reichtum in der Gesellschaft ist genauer „Wachstum von Kapitalien und Revenuen eines Landes“ [16/53]. Das Abstraktum „fortschreitender Reichtum der Gesellschaft“ konkretisiert sich in die Bereicherung einer ihrer Klassen, der Kapitalisten. In Marx’ Klassenanalyse des Kapitalismus gibt es schon in den „Manuskripten“ nicht reiche und arme Gesellschaften, sondern reiche, ausbeutende Klassen und arme, ausgebeutete Klassen! –

Wodurch ist dies Wachstum der Kapitalien möglich geworden? Durch Anhäufung vieler Arbeit Kapital ist aufgehäufte Arbeit, betont Marx. In dieser Weise aber der Entstehung von Reichtum, kapitalistischem Reichtum geschieht es unabdingbar, „dass dem Arbeiter immer mehr von seinen Produkten aus der Hand genommen wird, dass seine eigne Arbeit ihm immer mehr als fremdes Eigentum gegenübertritt und die Mittel seiner Existenz und seiner Tätigkeit immer mehr in der Hand des Kapitalisten sich konzentrieren.“ [17/54] –

In Fortentwicklung dieses Grundgedankens, eines Grundgedankens über die unversöhnliche Widerspruchsdialektik von Kapital und Arbeit, gelangt Marx zu einer Grunderkenntnis der Theorie der sozialistischen Revolution. Sie kann ihr Ziel, die Befreiung der Arbeiterklasse und die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, nur erreichen, wenn sie diesen Mechanismus der Entfremdung von Arbeit und Eigentum durchbricht, wenn sie die in der Produktion sich ständig fortzeugende Polarität von eigentumsloser Ohnmacht bei den Arbeitenden und Konzentration der Macht bei den nichtarbeitenden Eigentümern aufhebt.

Dass sie darum auch für die Kritik des heutigen Sozialdemokratismus, sein hartnäckiges Leugnen der ausschlaggebenden Rolle der Eigentumsverhältnisse auch in der spätbürgerlichen Gesellschaft von ganz aktueller Bedeutung sind, sei hier nur am Rande erwähnt. –

Insgesamt hat zwar die rechte Sozialdemokratie der BRD seit dem Godesberger Programm den Marxismus als ganzes über Bord geworfen. Gleichwohl zehrt sie in ihrer Ideologie auch von Bruchstücken der durch den Revisionismus und die Marxologie erzeugten Verfälschung von Marx zum anthropologischen Entfremdungstheoretiker. (Man denke etwa an die schon erwähnte sozialdemokratische Phrase, dass der Freiheitsraum des einzelnen nicht durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, wohl aber durch das „Durchschaubarmachen“ der Verhältnisse, also eine Art Überwindung der intellektuellen Entfremdung der Individuen zu vergrößern sei!) Das Groteske dieser Anleihen wird deutlich, wenn man die Unauflöslichkeit von Eigentumsfrage und Entfremdung beim jungen Marx beachtet.

Eine weitere, den Arbeiter entfremdete Voraussetzung für die Anhäufung von kapitalistischem Reichtum ist die Durchführung der Teilung der Arbeit. „Die Häufung des Kapitals“, sagt Marx, „vermehrt die Teilung der Arbeit, die Teilung der Arbeit vermehrt die Zahl der Arbeiter; umgekehrt vermehrt die Zahl der Arbeiter die Teilung der Arbeit, wie die Teilung der Arbeit die Aufhäufung der Kapitalien vermehrt. Mit dieser Teilung der Arbeit einerseits und der Häufung der Kapitalien andrerseits wird der Arbeiter immer mehr rein von der Arbeit und einen bestimmten, sehr einseitigen, maschinenartigen Arbeit abhängig. Wie er also geistig und leiblich zur Maschine herabgedrückt und aus einem Menschen ein abstrakte Tätigkeit und ein Bauch wird, so wird er auch immer abhängiger von allen Schwankungen des Marktpreises, der Anwendung der Kapitalien und der Laune der Reichen.“ [18/55]

Als Ziel der sozialistischen Revolution und des Aufbaues der kommunistischen Gesellschaft ist damit angelegt und vom Marxismus-Leninismus nie wieder preisgegeben worden: Überwindung jener totalen Unterordnung des arbeitenden Individuums unter eine Arbeitsteilung, worin der konkrete Reichtum des Menschen, seine gesellschaftlich produktiven Wesenskräfte zu „abstrakter“ Tätigkeit einschrumpfen, völlig einseitig werden. –

Es entspricht so einem humanistisch-kapitalismuskritischen Motiv schon der „Manuskripte“, wenn kommunistische Parteien in den Programmen für die Führungstätigkeit bei der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit des arbeitenden Menschen, die Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit als eine ihrer edelsten Aufgaben bestimmen. [19/56]

Karl Marx stellt schließlich als Folge des Zustandes kapitalistischer Prosperität dies fest: sie befördert die Konzentration des Kapitals, den Ruin der kleinen durch die großen Kapitalisten, „… indem die Zahl der Kapitalisten sich vermindert hat, ist ihre Konkurrenz in bezug auf die Arbeiter fast nicht mehr vorhanden, und indem die Zahl der Arbeiter sich vermehrt hat, ist ihre Konkurrenz unter sich um so größer, unnatürlicher und gewaltsamer geworden. Ein Teil von dem Arbeiterstand fällt daher ebenso notwendig in den Bettel- oder Verhungerungszustand wie ein Teil der mittleren Kapitalisten in den Arbeiterstand.“ [20/57]

Fraglos sind all diese Einsichten eher erste Ansätze als schon durchgebildete Positionen der klassischen marxistischen politischen Ökonomie. Es sind freilich auch notwendige Ausgangspunkte für diese. Eines ist in unserem Zusammenhang festzuhalten: Sie gehören allesamt zur polit-ökonomischen Begründung der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution. Genau dies beginnt Marx in den „Manuskripten“ zu begründen: Die Arbeit muss vom Kapital emanzipiert werden. Das aber bedeutet: Es müssen die Verhältnisse gestürzt werden, in denen Arbeit zwangsläufig Kapital und damit fremde und feindliche Macht über die Arbeit selbst erzeugt. Dass diese Verhältnisse primär die Eigentumsverhältnisse sind, machen die „Manuskripte“ erstmalig umfassend klar. –

Und auch noch angesichts der Ausbeutungspraxis der heutigen Monopolbourgeoisie ist dem zuzustimmen, was Marx als Resultat der Bereicherung der Kapitalisten und ihrer feindlichen Gewalt über die Arbeit festhält: „Also selbst in dem Zustand der Gesellschaft, welcher dem Arbeiter am günstigsten ist, ist die notwendige Folge für den Arbeiter Überarbeitung und früher Tod, Herabsinken zur Maschine, Knecht des Kapitals, das sich ihm gefährlich gegenüber aufhäuft, neue Konkurrenz, Hungertod oder Bettelei eines Teils der Arbeiter.“ [21/58] –

Hervorgehoben, gleichfalls wegen ihrer Aktualität für den Monopolkapitalismus und typische Auswirkungen des Einsatzes von Technik, Wissenschaft, Automation unter seinen Bedingungen, seien noch diese Marxschen Sätze: „Ebenso macht die Teilung der Arbeit ihn (den Arbeiter; O. F.) immer einseitiger und abhängiger, wie sie die Konkurrenz nicht nur der Menschen, sondern auch der Maschinen herbeiführt. Da der Arbeiter zur Maschine herabgesunken ist, kann ihm die Maschine als Konkurrent gegenübertreten. Endlich, wie die Häufung des Kapitals die Quantität der Industrie, also die Arbeiter vermehrt, bringt durch diese Akkumulation dieselbe Qualität der Industrie eine größere Quantität Machwerk herbei, die zur Überproduktion wird und entweder damit endet, einen großen Teil Arbeiter außer Arbeit zu setzen oder ihren Lohn auf das kümmerlichste Minimum zu reduzieren.“ [22/59] –

Die Lage des Arbeiters nach Erreichen des Höhepunktes wachsenden Reichtums charakterisiert Marxim Anschluss an ein Smith-Zitat [23/60] – als „stationäres Elend“. Die Untersuchung der verschiedenen Zustände der kapitalistischen Gesellschaft mündet in dem Ergebnis: Also im abnehmenden Zustand der Gesellschaft progressives Elend des Arbeiters, im fortschreitenden Zustand kompliziertes Elend, im vollendeten Zustand stationäres Elend.“ [24/61]«

Anmerkungen

1/38 Vgl. K. Hartmann, Die Marxsche Theorie, (West-) Berlin 1970, S. 2.

2/39 »Das zitierte Buch Hartmanns ist, wie das Vorwort vermerkt, aus einer Vorlesung hervorgegangen.«

3/40 K. Hartmann, Die Marxsche Theorie, S. 3.

4/41 Ebenda, S. 7.

5/42 Ebenda, S. 127.

6/43 »Zu erinnern wäre etwa an Marx’ berühmtes Vorwort zur Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859. Ferner ist zu erinnern an den gleichfalls vielzitierten Brief an Annenkow vom 28. Dezember 1846. Darin stellt Marx über Proudhons Versagen auf dem Gebiete der philosophischen Theorie und der Kritik der politischen Ökonomie fest: „Proudhon liefert nicht deshalb eine falsche Kritik der politischen Ökonomie, weil er eine lächerliche Philosophie besitzt, sondern er liefert eine lächerliche Philosophie, weil er die gegenwärtigen sozialen Zustände in ihrer Verkettung … nicht begriffen hat.“ (Karl Marx an P. W. Annenkow, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 547.) Marx gibt diesem Brief eine gedrängte Darstellung über das Verhältnis von ökonomischer Entwicklung, politischen Kämpfen und Ideenproduktion, die selbstredend auch jeder Analyse der Marxschen Gedankenentwicklung selbst zugrundezulegen ist. Es ist eben ganz und gar unmöglich, Marx’ Philosophie zu isolieren 1. aus der objektiven sozialen Situation und 2. aus der spezifisch Marxschen Stellungnahme zu Analyse und Kritik der „Verkettung“ der sozialen Zustände. Für Hartmann gilt durchaus, was Marx für das Missverständnis der wirklichen Beziehungen zwischen ökonomisch-sozialem Prozess und seinem theoretischen Reflex feststellt: Proudhon habe nicht begriffen, „dass die Menschen, die entsprechend ihrer materiellen Produktivität die gesellschaftlichen Beziehungen produzieren, auch die Ideen, die Kategorien, d. h. den abstrakten, ideellen Ausdruck eben dieser gesellschaftlichen Beziehungen produzieren … Für Herrn Proudhon sind ganz im Gegenteil die Abstraktionen, die Kategorien die primäre Ursache.“ (Ebenda, S. 554.) Marx betont ferner, „dass ein Mensch, der die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht begriffen hat, noch weniger imstande ist, die Bewegung, die sie umwälzen will, und den literarischen Ausdruck dieser revolutionären Bewegung zu begreifen.“ (Ebenda, S. 556.) Dies ist der entscheidende Punkt: Von einem Standpunkt, der ein Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft ist, kann nicht die sie revolutionär umwälzende Bewegung und der Begründer ihrer wissenschaftlichen Theorie, Karl Marx, begriffen werden. Ferner: Vom idealistischen Standpunkt kann nicht der ihn theoretisch endgültig überwindende Marxsche Standpunkt, nämlich der dialektische Materialismus, begriffen werden. Beides führt zwangsläufig zu Missverständnissen und Fälschung

7/44 K. Hartmann, Die Marxsche Theorie, S. 87. (Erste Hervorhebung von O. F.)

8/45 Ebenda.

9/46 »Vgl. ebenda, S. 8, wo Hartmann betont, er befinde sich mit seinem beabsichtigten Rekurs auf Marxsche Theorie als Theorie, als „transzendentaler Theorie“ im Gegensatz zu Habermas, sofern doch bei ihm das Fassen der Marxschen Lehre in Verbindung mit der Kontingenz der Geschichte, mit soziologischer und mit subjektiver Praxis wesentlich sei. Hartmann kritisiert Marx und spätbürgerliche Marxinterpretationen, diejenige der Frankfurter Schule eingeschlossen „von rechts“, d. i. wegen der Reste von authentischem, also auf empirische Wirklichkeit, Praxis usf. abzielendem Marx.«

10/47 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 473. (Mit dem französischen Schlussteil des Satzes zitiert Marx aus der französischen Ausgabe von Adam Smith’s „Inquiry into the nature and the causes of the wealth of nations“.)

11/48 Ebenda.

12/49 Ebenda.

13/50 Ebenda, S. 490.

14/51 A. Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Überarbeitete, ergänzte und mit einem Postscriptum versehene Neuausgabe, Frankfurt/M. 1971, S. 210, 211.

15/52 Ebenda.

16/53 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 473.

17/54 Ebenda. (Hervorhebung von O. F.)

18/55 Ebenda, S. 473 f.

19/56 »Im Rechenschaftsbericht des ZK der SED an den VIII. Parteitag ist in dem Teil, der die Stärkung und Vervollkommnung der sozialistischen Staatsordnung betrifft, ein besonderer Abschnitt überschrieben mit: „Die Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit – eine Hauptaufgabe der Partei bei der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung.“ Des näheren heißt es dann: „Eines der edelsten Ziele und eine der größten Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft ist die allseitig entwickelte Persönlichkeit. Dabei handelt es sich nicht um ein Ziel, das erst in ferner Zukunft erreicht wird. Wenn wir hier von ,Persönlichkeit’ sprechen, meinen wir eine besonders charakteristische geistige und moralische Ausprägung des menschlichen Individuums. Von diesem sagt Marx im allgemeinen, dass ,der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehung abhängt’. Sozialistische Persönlichkeiten entwickeln sich in ihren Arbeitskollektiven, im Ringen um höchste Ergebnisse im sozialistischen Wettbewerb, beim Lernen, im Sport und bei der Aneignung der Schätze der Kultur, bei der Teilnahme an der Leitung und Planung unserer Gesellschaft auf allen Gebieten. Nachhaltigen Einfluss übt die ideologische Arbeit auf die Entwicklung der Menschen aus.“ (Rechenschaftsbericht des ZK der SED an den VIII. Parteitag der SED, Berlin 1971, S. 70, K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 37.) Womit wir es hier zu tun haben ist eine konkrete Etappe, eine konkrete Verwirklichungsform der revolutionären Norm Marxschen Denkens: Überwindung der Vereinseitigung des arbeitenden Menschen! Als Fazit sowohl aus dem bereits zurückgelegten Weg sozialistischer Entwicklung der Persönlichkeit als auch weiter wirkende Norm für diesen Prozess ist klargestellt: Zur sozialistischen Persönlichkeit gehört das Ganze der physischen und intellektuellen Kräfte, der moralischen, kulturellen und politischen Eigenschaften. Sie entfaltet sich in der unmittelbaren Produktion ebenso wie in der Sphäre der Bildung und Kultur und nicht zuletzt in der aktiven Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Dergestalt hat der Sozialismus jene Degradierung des Menschen durch den Kapitalismus überwunden, die Marx darin zusammenfasste, dass er zur „abstrakten Tätigkeit“ würde.« [O. F., 1973 –]

20/57 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 474.

21/58 Ebenda.

22/59 Ebenda, S. 474 f.

23/60 Marx zitiert: „In einem Lande, welches die letztmögliche Stufe seines Reichtums erreicht hätte, wären beide, Arbeitslohn und Kapitalinteresse, sehr niedrig. Die Konkurrenz unter den Arbeitern, um Beschäftigung zu erhalten, wäre so groß, dass die Salaire auf das reduziert wären, was zur Erhaltung der nämlichen Zahl von Arbeitern hinreicht, und da das Land sich schon hinreichend bevölkert hätte, könnte sich diese Zahl nicht vermehren.“ (Ebenda, S. 475.)

24/61 Ebenda, S. 475.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.8. Marx über typische Zustände der kapitalistischen Gesellschaft und ein heutiges bürgerliches Fehlurteil über Marx’ Aktualität, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

08.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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