Aspekte der Folgen der Beseitigung der Sowjetunion und Enteignung der Werktätigen

[Ein Textauszug]

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand 1992 die russländische Föderation (der offizielle Name des Staates, der auf deutsch oft nur „Russland“ oder „russische Föderation“ genannt wird) als größter Nachfolgestaat der Sowjetunion. Nach dem fehlgeschlagenen Putsch und der Abschaffung der KPdSU und vieler sowjetischer Institutionen setzte Jelzin 1991 den Ökonomen Yegor Gaydar als Premierminister ein, mit dem Ziel, möglichst schnell Wirtschaftsreformen in Richtung eines Umbaus zur “Marktwirtschaft“ einzuleiten. 1993 kam es, hauptsächlich durch schon seit 1992 bestehende Differenzen über die einzuschlagende Wirtschaftspolitik, zu Problemen zwischen Jelzin und dem Volksdeputiertenkongress, im Zuge derer Jelzin das Parlament auflöste. Den darauf folgenden bewaffneten Aufstand ließ er mit Gewalt niederschlagen, ParlamentarierInnen, die sich der Auflösung entgegenstellten, wurden festgenommen, quer durch das Land OpponentInnen suspendiert, entlassen und zum Rücktritt gezwungen und fünfzehn Zeitungen geschlossen. Die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands stellt einen Wendepunkt in der Politik Russlands dar, die sich immer mehr hin zu einem autoritären Regierungsstil entwickelte. Obwohl ab 1993 “freie Wahlen“ abgehalten wurden, wurde die Rolle demokratischer Institutionen eingeschränkt und eine Machtverschiebung hin zum Präsidenten vorgenommen.

Nach einer kurzen Periode, in der Jelzin beinahe absolute Macht hatte, kamen bei den ersten freien Parlamentswahlen 1993 vor allem Personen der Nomenklatura der alten Staatsbetriebe in die Duma, die schon in Sowjetzeiten Schlüsselpositionen in der Politik innegehabt hatten und in deren Hände auch Eigentum, Güter und Finanzkapital zuerst gelangt war. In den folgenden Jahren bis 2000 kam es zu häufigen Personalwechseln in den Schlüsselämtern und vielen rhetorischen Richtungsänderungen.

Übergang zur “Marktwirtschaft“ russischer Prägung

Als das realsozialistische System zusammengebrochen war, tauchte die Frage auf, wie der Übergang zu einem “marktwirtschaftlichen“ (kapitalistischen) System vonstatten gehen sollte. Die Hauptfrage nach der Schnelligkeit der von allen Seiten als notwendig erachteten Reformen der Liberalisierung, Privatisierung und der makroökonomischen Stabilisierung – es erlebte ja auch die westliche Welt gerade eine Privatisierungswelle – spitzte sich in der zu treffenden Entscheidung für eine „Schocktherapie“ oder für eine graduelle Reform zu. Zu beiden Strategien gab und gibt es ProponentInnen, und obwohl sogar damals führende Berater angesichts der historischen Tatsachen heute eine graduelle Reform empfehlen würden, siegten in Russland 1991 die BefürworterInnen der radikalen Reform neoliberalen Zuschnitts. Die Berater von Premierminister Gaydar und Anatoly Chubais, der für die Privatisierungen zuständig war, waren führende, meist US-amerikanische Ökonomen wie Jeffrey Sachs und der Schwede Anders Åslund und ihre Institutionen wie die Harvard University oder das Massachusetts Institute of Technology, weiters Ökonomen aus mittel- und osteuropäischen Ländern, wie der polnische Radikal-Reformer Leszek Balcerowicz und internationale Finanzinstitutionen wie der IMF und die Weltbank. Gleich nach dem Putsch 1991 wurde von Gaydar das Programm „500 Tage zur Marktwirtschaft“ entwickelt, das Russland eine Schocktherapie in Richtung „Manchester-Kapitalismus“ verordnete, dessen Kern die Privatisierung war. Doch es sah keinen vorherigen oder begleitenden Aufbau einer wirtschaftliche Infrastruktur vor.

Die Schocktherapie gliederte sich in eine systematische Vernichtung des Systems der wirtschaftlichen Entscheidungsfindung der Sowjet-Ära ein – die gesamte Verwaltung der Wirtschaft wurde reorganisiert. Im Jänner 1992 wurde eine fast vollständige Freigabe der Einzelhandelspreise und der Erzeugerpreise bei gleichzeitiger Einführung des Privateigentums durchgeführt. Voucher-und Cash-Privatisierungen sollten das Problem der Verteilung des staatlichen Eigentums lösen. Parallel dazu begann der Öffnungsprozess der russischen Wirtschaft für den Weltmarkt und der Abbau der Rolle des Staates in der Wirtschaft, Gesetze zu Insolvenz, privatem Eigentum von Land, ausländischen Investitionen und Steuersätzen wurden beschlossen.

All die Veränderungen der Schocktherapie wirkten sich jedoch vorerst nur stark negativ auf die Bevölkerung aus.

Kurz nach dem Umbruch begannen sich sämtliche wirtschaftliche und soziale Indikatoren stark ins Negative zu entwickeln. Das Wirtschaftswachstum war bis 1998 nach offiziellen Zahlen rückläufig mit einem Minus von 14,5% im Jahr 1992 bis zu einem Minus von 5,3% im Jahr 1998 mit nur einer positiven Wachstumsrate im Jahr 1997. Mitte des Jahres 1998 war das BIP Russlands nur etwas mehr als halb so groß wie 1989. Auch die Reallöhne waren 1997 nur etwa halb so hoch wie 1989, 1999 sogar nur etwa ein Drittel so hoch.

Lebenserwartung reduzierte sich von 65,5 auf 57,3 Jahren (M)

Die Lebenserwartung fiel stark (besonders bei Männern – 1990 lag sie bei 65,5 Jahren, 1994 nur mehr bei 57,3 Jahren), die Einkommensverteilung ging stark auseinander. Landwirtschafts-und Industriesektor schrumpften stark zu Gunsten des Dienstleistungssektors, wobei die Industrien, in denen Russland weltweit konkurrenzfähig war – Gas, Öl und andere Bodenschätze – an wenigsten zu kämpfen hatten. Die Inflation stieg 1992 auf ca. 2.500 % an und blieb bis Mitte der 90er Jahre dreistellig. Castells spricht von einem Kollaps des Außenhandels (vgl. Quelle), als bis 1996 sowohl Importe als auch Exporte unter das Level von 1991 fielen. Auch die Zahlen an FDI stiegen nur marginal an – somit war Russland nach dem Umbruch in absoluten Zahlen sogar noch weniger in die Weltwirtschaft integriert als in den Zeiten der Sowjetunion.

Nomenklaturdemokratie“

Das Chaos der dem Umbruch folgenden „Nomenklaturdemokratie“ war ein Nährboden für Kriminalität, Korruption und mafiöse Strukturen. Im September 1997 schrieb die Moscow Times, 70% des privaten Sektors befänden sich in den Händen der Mafia.

Im Jahr 1998 war es nur in Kolumbien und El Salvador wahrscheinlicher, eines gewaltsamen Todes zu sterben, als in Russland mit 53,7 Morden pro 100.000 EinwohnerInnen, in absoluten Zahlen über 85.000 Morde pro Jahr.

Korruption war und ist in Russland in allen Lebensbereichen präsent. Die russische NGO INDEM Foundation schätzt die jährliche Summe von Bestechungsgeldern, vor allem im Justizbereich, bei Militär und Polizei und im Bildungs-, Gesundheits-und Wohnungssektor, die in Russland von StaatsbürgerInnen bezahlt wird, auf 3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2005 (gestiegen seit 2001). Das starke Ausbrechen von kriminellen und mafiösen Aktivitäten nach dem Umbruch allerdings hauptsächlich der russischen Kultur und Geschichte zuzuschreiben, ist eine Verkürzung, die oft von Befürwortern der radikalen Reformen geäußert wurde, um diese nicht in ein schlechtes Licht zu rücken. Eine plausiblere Erklärung ist, dass die neoliberale Transformationsstrategie ganz einfach wirtschaftliche Umstände schuf, die kriminelles Verhalten sehr verlockend, beziehungsweise sogar zur einzigen Möglichkeit, zu Geld zu kommen, machten.

Es wurden sehr schnell tiefgreifende Reformen in Richtung einer neoliberalen Marktwirtschaft getätigt, ohne begleitende Gesetze, Regulierungen und die Schaffung von Institutionen, die sichergestellt hätten, dass die Privatisierungen nicht zu dem führten, was im Endeffekt herauskam: Die Bereicherung für eine kleine Schicht der Bevölkerung, Verarmung einer breiten Schicht und das starke Anwachsen von Wirtschafts-und anderer Kriminalität.

Privatisierungen

Die Privatisierung Russlands gliedert sich in zwei Phasen: Die Voucher-Privatisierung von 1992 bis Mitte 1994 und die Cash-Privatisierung danach. In der ersten Phase konnten Vouchers (Privatisierungsschecks) und Geld, in der zweiten nur mehr Geld zum Erwerb von Aktien an vormals staatlichen Betrieben verwendet werden. Die Idee der PrivatisiererInnen war es, die kleineren staatlichen Unternehmen im Dienstleistungsbereich, dem Handel und der Gastronomie zu privatisieren und sozusagen anteilsmäßig auf die Bevölkerung aufzuteilen um die Akzeptanz der Transformation zu erhöhen. Bis 1995 waren 60% der kleinen Betriebe privatisiert, das meiste davon war an die Belegschaft gegangen.

Auch staatliche Großbetriebe wurden in Aktiengesellschaften (AGs) umgewandelt, allerdings war ihre Privatisierung heikler. Einige wichtige Unternehmen wie Ölextraktionsfirmen oder natürliche Monopole wie Telekommunikation wurden vorerst vom Verkauf ausgenommen, von den vielen tausend anderen wurden die meisten in einer Variante verkauft, die vorsah, dass die Belegschaft 51% der Aktien ihres Unternehmens kaufen konnte, bevor „OutsiderInnen“ zum Kauf zugelassen wurden – zum 1,7-fachen Preis des Buchwerts vom Juli 1992. Wegen der 2.500-%-igen Inflation waren diese Preise aber völlig unter dem eigentlichen Wert. Weiters konnten bis zu 80% der Summe mit Vouchers bezahlt werden.

Im Vorfeld der Privatisierungen wurden staatliche Unternehmen in Aktiengesellschaften (AGs) umgewandelt und dem Russischen Fonds für föderales Eigentum überantwortet, der nach und nach auf staatliche Anordnung Aktien verschiedener Unternehmen verkaufte

Premier Gaydar, der diese Privatisierungsvariante zuließ, gab später zu, dass dies ein Fehler gewesen war. Sie hatte zur Folge, dass die großen Unternehmen des Landes von ihren ManagerInnen (“Roten Direktoren“) aufgekauft wurden und die „normalen Leute“, wie auch die ArbeiterInnenschaft, durch die Finger schauten. Dies hing auch mit dem Ablauf der Voucher-Privatisierung zusammen.

Im Herbst 1992, zu Beginn der ersten Phase der Privatisierung, wurden 150 Millionen Vouchers mit dem niedrigen Wert von 10.000 Rubel gratis an alle erwachsenen BürgerInnen ausgegeben, wofür innerhalb eines gewissen Zeitraums Aktien von gewissen neuen AGs gekauft werden konnten. Durch die Verteilung der Vouchers in der ersten Phase sollte eine „Nation von Shareholdern“ kreiert werden, die ein Interesse am Erfolg ihrer Unternehmen hatte. Wenn die ShareholderInnen ihre Anteile nicht halten wollten, könnten sie diese verkaufen und hätten somit ein Interesse an der Schaffung von klaren Gesetzen und Abläufen zum Schutz von privatem Eigentum. Die KäuferInnen der Anteile wären im Gegensatz zu den VerkäuferInnen aktive MarktteilnehmerInnen, die deshalb die höchsten Preise für die Anteile zahlen würden, weil genau sie die größte Wertschöpfung aus ihnen erzielen könnten. Somit würde die Einführung von privatem Eigentum auch zu einer “effizienten Marktwirtschaft“ und “modernen Demokratie“ führen.

Das Gros der russischen Bevölkerung bestand jedoch nicht aus homines oeconomici, sondern hatte Jahrzehnte lang im Realsozialismus gelebt, hatte weder unternehmerische Erfahrung noch Ersparnisse (was sie hatten, war durch die Inflation 1992 weggefegt worden) und so geriet die Privatisierung Russlands zu einer Plünderung durch Personen, die Vorteile hatten und diese ausnutzten. Nach der mit rasantem Tempo und ohne begleitende Regulierungsmaßnahmen durchgeführten ersten Phase der Privatisierung, und nachdem der Wert der Vouchers nominell durch die hohe Inflation schnell aufgefressen worden war (innerhalb eines Jahres war der Wert eines Vouchers auf umgerechnet 25 $ gesunken), hatte die meisten der neuen ShareholderInnen keine Ahnung, wie viel die Vouchers trotzdem Wert waren – man konnte ja trotzdem mit ihnen ebenso unterbewertete Aktien von Unternehmen kaufen. –

Viele gaben ihre Anteile sehr schnell her, gegen geringe Bezahlung oder auch gegen betrügerische Versprechungen von später (in Realität oft: nie) folgenden Zahlungen. Personen, die über mehr Information verfügten als der Rest der Bevölkerung, wie die ManagerInnen der Firmen oder sich neu etablierende InvestorInnen, die oft der „Mafia“ der Schattenwirtschaft angehören, nutzten die Situation aus und eigneten sich dadurch und durch andere Konstruktionen wie ab 1995 dem sehr umstrittenen Loans for Shares Programm (Zalogovye auktsiony) in der zweiten Phase der Privatisierungen zu Spottpreisen die großen Unternehmen Russlands an.

Diese Praktiken favorisierten die Entstehung einer Gruppe von auch nach internationalen Standards sehr schnell sehr reich und mächtig werdenden Menschen, die oft als „Oligarchen“ bezeichnet werden, darunter alle der bekannten Namen der heute 32 russischen Milliardäre (vgl. Forbes 11.3.2009). Sie rekrutierte sich aus Personen aus drei Gruppen: Der vormaligen Nomenklatura (Beispiel für diese Gruppe sind etwa Viktor Chernomyrdin oder Vladimir Potanin), ManagerInnen von Betrieben, den sogenannten “Roten Direktoren“, (z.B. Nikolai Pugin) und sehr häufig aus dem mafiösen Spektrum (z.B. Boris Berezovskyi, Mikhail Khodorkovskyi, Roman Abramovich oder Oleg Deripaska), wobei sich die Gruppen auch überschneiden. Sie wurden nicht etwa damit reich, dass sie viele der unrentablen großen Betriebe aufkauften, in sie investierten, sie sanierten und dann Gewinne machten, sondern meistens im Gegenteil damit, dass sie die Unternehmen im richtigen Moment zerschlugen und liquidierten.

Dem Staat brachten die Privatisierungen nur geringe Einnahmen, da viele wichtige Unternehmen weit unter ihrem Marktwert verkauft worden waren.

Ein weiteres Problem, das von manchen ÖkonomInnen als ein Hauptgrund der wirtschaftlichen Probleme Russlands in den 90er Jahren angesehen wird, war der in den 90er Jahren beinahe kontinuierlich steigende reale Wechselkurs des Rubels gegenüber dem Dollar und dem Euro (von 1992 bis 1998 auf beinahe 500%, vgl. Bank Rossii (a)) und seine Folgen. Dieses Phänomen wird oft Dutch Disease genannt und trifft Länder, die sich stark auf den Export von gewissen Gütern (meist Rohstoffen) stützen, wie es in Russland mit den Erdöl-Exporten der Fall ist. Durch die Außenhandelsüberschüsse, die durch die Exporte entstehen, kommt es zu einer Aufwertung der Währung, wodurch Importe von Konsumwaren verbilligt werden und die heimische verarbeitende Industrie unter Druck gerät. Das Problem der Dutch Disease Russlands ist auch heute noch aktuell.

Stabilisierungsprogramm und Finanzkrise 1998

1995 führte die russische Regierung unter dem Einfluss von Beratern des IMF ein Stabilisierungprogramm ein, das unter der Annahme, die hohe Inflation sei der Hauptgrund für die Krise Anfang der 90er Jahre gewesen, diese mit restriktiver Geldpolitik eindämmen sollte. Später wurde auch der Rubel an der Dollar gebunden. Innerhalb von drei Jahren (1995-97) ging die Inflation tatsächlich von 197% auf 15% zurück und die BefürworterInnen der restriktiven Politik aus den Reihen des IMF sahen sich bestätigt. Allerdings stiegen dadurch der reale Zinssatz und der reale Wechselkurs sehr stark an und der Zugang zu Krediten wurde erschwert, was negative Auswirkungen auf die reale inländische Wirtschaft hatte und zu den Bedingungen, die 1998 zur Finanzkrise führten, beitrug. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen litt und Staatsdefizit und Staatsverschuldung Russlands stiegen bis 1998 stark an.

Während die reale Wirtschaft Mitte der 90er Jahre keine positiven Entwicklungen aufweisen konnte, boomte der Finanzmarkt Russland. Oligarchen machten Riesengewinne mit Ölexporten, spekulierten mit Wertpapieren und liehen dem Staat Geld. 1996 wurde Jelzin als Präsident (nach dubiosen Vorgänge vor der Wahl, millionenschwerer Unterstützung aus den Reihen der Oligarchen sowie von westlichen Institutionen wie dem IMF, starker Manipulierung der WählerInnen durch die Kontrolle der Massenmedien und wahrscheinlich auch glatter Wahlfälschung, wiedergewählt, was eine politische Stabilisierung vortäuschte, und 1997 einige Wirtschaftsreformen getätigt, wie eine Revision des Privatisierungsgesetzes, die einen kleinen Konsumboom auslösten. 1997 stieg das Wirtschaftswachstum erstmals wieder, wenn auch nur um 1,4 %. Des weiteren wurde eine Lockerung der Restriktionen im Bereich des Kapitalverkehrs vorgenommen, was gemeinsam mit dem oben Genannten zur Folge hatte, dass kurzfristig orientiertes ausländisches Kapital einzuströmen begann – 44 Milliarden US-Dollar allein im Jahr 1997. In diesem Jahr erlebte die russische Börse einen nie gekannten Ansturm, Aktien von Ölfirmen und Banken zogen massenhaft in-und ausländische InvestorInnen an und ausländische Banken finanzierten eine „orgy of speculation“ von kurzfristigen Staatsanleihen (GKO). Der russische Staat, der nach wie vor an einem chronischen Haushaltsdefizit litt, schaffte es nicht, das Steueraufkommen zu erhöhen, und versuchte (wie auch Berater des IMF empfahlen) schon seit einigen Jahren vor 1997 zusätzlich über GKO Geld herein zu bekommen. Die Lage spitzte sich 1997 zu, als die Regierung immer mehr GKO verkaufen musste, um die vorher verkauften Anleihen tilgen zu können – je höher die Schulden wurden, desto mehr stiegen die Zinsen, bis die „GKO-Pyramide“ zusammenbrach. Die Diskrepanz zwischen dem Boom auf dem russischen Finanzmarkt und der immer schlechter gehenden realen Wirtschaft wurde immer größer.

Obwohl sie nicht der alleinige Grund war, gab die Asienkrise von 1997 den Anstoß zur Finanzkrise Russlands. Als die Voraussagen für das Wirtschaftswachstum in Thailand, Malaysia, Indonesien und Südkorea trotz Bail-Outs des IMF im Frühjahr 1998 immer pessimistischer wurden, begannen beunruhigte ausländische InvestorInnen, die nun generell ihr Geld aus „Emerging Markets“ ziehen und in sicherere Anlagen bringen wollten, ihr Geld auch aus Russland abzuziehen. Der in der Folge der Asienkrise gesunkene Ölpreis tat sein übriges dazu, da die InvestorInnen wussten, dass Russland ohne die Einnahmen aus den Ölexporten seine Schulden nicht bezahlen können würde. Die Kapitalflucht beschleunigte sich im Sommer 1998, die Zinsen auf die GKO stiegen immer weiter – im Juli war die fällige monatliche Zinszahlung auf 140% der monatlichen Steuereinnahmen – und auch ein Kredit des IMF konnte nicht helfen.

Im August 1998 musste die russische Regierung den Rubel abwerten, der Kurs begann unkontrollierbar stark zu fallen und fiel in den nächsten fünf Monaten nominell um 75% gegenüber dem Dollar. Die Regierung verhängte ein Moratorium auf die Auslandsschulden und kündigte an, ihre Inlandsschulden nicht mehr bedienen zu können. Viele Banken wurden insolvent, eine große Zahl von Geschäften und Unternehmen sperrte zu. Eine starke Inflation setzte ein und vernichtete die Ersparnisse vieler RussInnen, die Reallöhne sanken von 1998 auf 1999 nochmals um mehr als 20%, die realen Sozialausgaben sanken stark und die Armut stieg.

Die russische Finanzkrise war die letzte Phase der langen und schweren Depression der 90er Jahre – und viele AutorInnen sind der Meinung, dass sie kein Zufall war, sondern das Produkt der Bedingungen, die neoliberale Politik in Russland produziert hatte und ein Beweis für das Versagen der Empfehlungen des IMF.

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Arbeitsmarkt und Verteilung

Die Reallöhne in Russland stiegen in der Zeit von 1999 bis 2007 stark an. Nach Daten des WIIW Handbook of Statistics 2008 stiegen die Reallöhne (in Rubel) in diesem Zeitraum um durchschnittlich 15% pro Jahr. Der Durchschnittslohn einer russischen ArbeiterIn im verarbeitenden Gewerbe lag allerdings zwischen 2002 und 2007 trotzdem nur bei umgerechnet 170,33 Euro (CPI-deflationiert auf das Basisjahr 2002), also im Vergleich zu anderen mittel-und osteuropäischen Ländern sehr niedrig (2007 lagen beispielsweise von den 19 in WIIW Handbook of Statistics 2008 erfassten mittel-und osteuropäischen Ländern die Löhne in nur dreien der Länder – in Albanien, Bulgarien und der Ukraine – niedriger als die Löhne in Russland, vgl. WIIW Handbook of Statistics 2008, Table I/1.15). 1993 wurden Mindestlöhne in Russland eingeführt, die im Jahr 2005 ca. 10% des Durchschnittslohns im Sektor der verarbeitenden Industrie und nur 30% des Subsistenzminimums entsprachen.

Trotz der hohen BIP-Wachstumsraten nahm die über alle Sektoren aggregierte Beschäftigung in Russland seit 2000 nur sehr schwach, mit ein jährlicher Zugewinn von durchschnittlich 0,7%, zu, wie Abbildung 6 zeigt. Der Trend der „Jobless Growth“, der für mittel-und osteuropäische Staaten konstatiert wird (vgl. Onaran 2008, Havlik et al. 2005), setzt sich also auch in Russland fort. Zunahmen in der Beschäftigung waren fast nur in Dienstleistungssektoren zu verzeichnen (mit der Ausnahme des Sektors Bau), währenddessen kam es zu deutlichem Arbeitsplatzabbau in den Sektoren Landwirtschaft, Fischerei, Bergbau und der verarbeitenden Industrie (Herstellung von Waren) in fast allen Jahren. Gleichzeitig herrschte nach wie vor eine Arbeitslosenrate von durchschnittlich 7,3% in den Jahren 2002 bis 2006. Die dem OECD-und dem EU15-Durchschnitt nicht unähnliche demographische Struktur Russlands mit einem immer kleiner werdenden Verhältnis der Zahl der Kinder zur arbeitenden Bevölkerung wird möglicherweise ein Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung bewirken .

Die Verteilung der gestiegenen Wirtschaftsleistung und damit der Einkommen Russlands auf die Bevölkerung ist eine sehr ungleiche. In der aktuellen Liste der reichsten Menschen der Welt, deren Schätzungen Momentaufnahmen der Vermögen vom Stichtag des 13. Februar 2009 sind, steht die Zahl der russischen unter den 793 MilliardärInnen weltweit mit 32 an dritter Stelle nach der Zahl der US-amerikanischen (118) und der deutschen MilliardärInnen. –

Mikhail Prokhorov, mit 43 Jahren bei einer geschätzten „net worth“ von 9,5 Milliarden US-Dollar angelangt, wird an vierzigster Stelle angeführt (vgl. Forbes 11.3.2009)11. Diesen etwa dreißig Männern, die sich Milliardäre nennen können, steht die Zahl von 18,8 Prozent der Bevölkerung, beziehungsweise 45,3 Prozent gegenüber, die zwischen 2000 und 2004 unter der Armutsgrenze leben mussten (im ersten Fall angesetzt mit 50 Prozent des Medianeinkommens, im zweiten mit einem Tagesbudget von weniger als vier US-Dollar) (vgl. UNDP 2007:241). –

Das Verhältnis der zehn Prozent Wohlhabendsten zu den zehn Prozent Ärmsten lag 1991 bei 4,5, stieg 1997 auf 13 und erreichte 2002 einen Wert von 12,8 – die zehn Prozent der Ärmsten hatten nur 2,4 Prozent des Einkommens zur Verfügung, während die zehn Prozent der Reichsten 30,6 Prozent davon auf sich vereinten (vgl. Jelissejeva 2005:176 und UNDP 2007:282). Der Gini Index Russlands lag 2002 mit 39,9 im Mittelfeld auf Platz 67 von 137 Ländern (vgl. UNDP 2007:282).

[Ein modifizierter Textauszug.]

Quelle: »Ausländische Direktinvestitionen und Lohnentwicklung in Russland« – Diplomarbeit – Verfasserin: Agnes Peterseil. Universität Wien. Wien 2009. – Vgl.:

http://othes.univie.ac.at/4698/1/2009-04-30_0206183.pdf

06.03.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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