W.I.LENIN: TEXTAUSZÜGE ZUR NEUEN ÖKONOMISCHEN POLITIK
“ÜBER DIE NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK“; REFERAT AM 29. OKTOBER 1921 BEI DER VII. MOSKAUER GOUVERNEMENTS-PARTEIKONFERENZ
Frühjahr (1921; d.Red.) sagten wir, dass wir uns nicht scheuen werden, zum Staatskapitalismus zurückzukehren. … Es wurde vorausgesetzt, dass im ganzen Staat die Industrieerzeugnisse gegen die landwirtschaftlichen Produkte mehr oder minder sozialistisch ausgetauscht wer- den und dass durch diesen Warenaustausch die Großindustrie als die einzige Grundlage der sozialistischen Organisation wiederaufgebaut wird. Was stellte sich indes heraus? Es stellte sich heraus – heute wissen Sie das alle sehr gut aus der Praxis, aber das geht auch aus unserer ganzen Presse hervor -, dass der Warenaustausch gescheitert ist, gescheitert in dem Sinne, dass er in Kauf und Verkauf einmündete. Und wir sind jetzt genötigt, das zu erkennen, wenn wir nicht den Kopf in den Sand stecken wollen, wenn wir uns nicht wie Leute gebärden wollen, die ihre Niederlage nicht sehen, wenn wir uns nicht scheuen, der Gefahr direkt ins Auge zu sehen. Wir müssen erkennen, dass sich der Rückzug als unzureichend erwiesen hat, dass wir einen zusätzlichen Rückzug antreten müssen, noch weiter zurück, indem wir vom Staatskapitalismus zur staatlichen Regelung des Kaufs und Verkaufs und des Geldumlaufs übergehen. Der Warenaustausch war ein Fehlschlag, der Privatmarkt hat sich als stärker erwiesen als wir, und statt des Warenaustausches ist gewöhnlicher Kauf und Verkauf, ist Handel zustande gekommen. Man muss sich dem Handel anpassen, sonst wird die Flutwelle des Kaufs und Verkaufs des Geldumlaufs über uns zusammenschlagen.
Das ist der Grund, warum wir uns in der Lage von Menschen befinden, die immer noch zum Rückzug gezwungen sind, um in der Folge schließlich zum Angriff überzugehen. Die Lage, die durch unsere Neue Ökonomische Politik geschaffen worden ist – Entwicklung kleiner Handwerksbetriebe, Verpachtung von Staatsbetrieben usw -, all dies bedeutet Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse, und das nicht sehen zu wollen, würde bedeuten, völlig den Kopf zu verlieren. Selbstverständlich ist die Stärkung der kapitalistischen Verhältnisse schon an und für sich eine Verschärfung der Gefahr. […]
Jeder Schritt in dieser Neuen Ökonomischen Politik bedeutet eine ganze Reihe von Gefahren. Als wir im Frühjahr sagten, dass wir die Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer ersetzen, dass wir den freien Handel mit den nach Entrichtung der Naturalsteuer verbleibenden Überschüssen dekretieren, gaben wir damit dem Kapitalismus Entwicklungsfreiheit. Das nicht zu wissen, würde bedeuten, völlig das Verständnis für die grundlegenden ökonomischen Verhältnisse zu verlieren und sich der Möglichkeit zur Orientierung und zum richtigen Handeln zu berauben. Gewiss, die Kampfmethoden haben sich geändert, es haben sich auch die Gefahrenmomente geändert. Als die Frage der Sowjetmacht, der Auseinanderjagung der Konstituante zur Entscheidung stand, drohte die Gefahr von Seiten der Politik. Diese Gefahr erwies sich als ganz geringfügig. Als aber die Epoche des Bürgerkriegs an brach, der von den Kapitalisten der ganzen Welt unterstützt wurde, trat die militärische Gefahr in Erscheinung – sie war schon bedrohlicher. Und als wir unsere ökonomische Politik änderten, wurde die Gefahr noch größer, weil die Ökonomik, die sich aus einer Unmenge wirtschaftlicher, alltäglicher Kleinigkeiten zusammen- setzt, an die man sich zu gewöhnen pflegt und die man leicht übersieht, von uns besondere Aufmerksamkeit und Anspannung verlangt und mit besonderer Bestimmtheit die Notwendigkeit in den Vordergrund rückt, die richtigen Methoden zu ihrer Bewältigung zu erlernen. Wiederherstellung des Kapitalismus, Entwicklung der Bourgeoisie, Entwicklung bürgerlicher Verhältnisse aus dem Handel heraus usw. – das ist eben die Gefahr, die unserem jetzigen ökonomischen Aufbau, unserem jetzigen allmählichen Herangehen an die Lösung einer Aufgabe, die weit schwieriger ist als die vorhergehenden, eigen ist. Hier darf es nicht den kleinsten Irrtum geben.
„DIE NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK UND DIE AUFGABE DER AUSSCHÜSSE FÜR POLI- TISCH-KULTURELLE AUFKLÄRUNG“; REFERAT AM 17. OKTOBER 1921 BEIM II. GESAMTRUSSISCHEN KONGRESS DER AUSSCHÜSSE FÜR POLITISCHKULTURELLE AUFKLÄRUNG
Die Neue Ökonomische Politik […] bedeutet den Übergang zur Wiederherstellung des Kapitalismus in beträchtlichem Ausmaß. In wie großem Ausmaß, das wissen wir nicht. Konzessionen an ausländische Kapitalisten, Verpachtung an Privatkapitalisten, – das ist eben eine direkte Wiederherstellung des Kapitalismus, und das ist mit den Wurzeln der Neuen Ökonomischen Politik verbunden. […]
Wer wird siegen – der Kapitalist oder die Sowjetmacht? Wer wird siegen, wer wird die Lage schneller ausnutzen – der Kapitalist, den wir selbst zur Tür hereinlassen, oder sogar durch mehrere Türen (und durch viele Türen, die wir selber nicht kennen und die ohne und gegen unsere Absicht aufgetan werden), oder die proletarische Staatsmacht? […]
Die ganze Frage ist die: Wer wird wem überflügeln? Gelingt es den Kapitalisten, sich früher zu organisieren, dann werden sie die Kommunisten zum Teufel jagen, darüber braucht man überhaupt kein Wort zu verlieren. Man muss diese Dinge nüchtern betrachten: Wer – wen? Oder wird die proletarische Staatsmacht imstande sein, gestützt auf die Bauernschaft, die Herren Kapitalisten gehörig im Zaum zu halten, um den Kapitalismus in das Fahrwasser des Staates zu leiten und einen Kapitalismus zu schaffen, der dem Staat untergeordnet ist und ihm dient? Man muss diese Frage nüchtern stellen. […]
Der Kern der Sache aber ist, dass der Kampf noch erbitterter, noch härter ist und sein wird als der Kampf gegen Koltschak und Denikin. Und zwar, weil jener Kampf ein militärischer war – das ist eine altgewohnte Sache. Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch hat man immer Krieg geführt. In der Kunst, im Krieg Menschen umzubringen, sind ungeheure Fortschritte gemacht worden. Allerdings saßen in den Stäben fast aller Gutsbesitzer Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die sich heiser schrieen über Volksrechte, über die Konstituante und darüber, dass die Bolschewiki alle Freiheiten verletzt hätten. Dennoch war es leichter, die militärische Aufgabe zu lösen als die, vor der wir jetzt stehen. Die militärische Aufgabe konnte man durch Ansturm, Angriff, Enthusiasmus lösen, geradezu durch die physische Kraft der Arbeiter und Bauern, die sahen, dass der Gutsbesitzer auf sie losging. Heute gibt es keine offenen Gutsbesitzer mehr. […]
Ein klares Bild davon, dass sich der Feind schon mitten unter uns befindet und dass es derselbe Feind ist, dass die Revolution vor einem Abgrund steht, auf den alle früheren Revolutionen gestoßen und vor dem sie zurückgescheut waren – diese Einsicht kann das Volk nicht haben, […] Woher soll das Volk das Bewusstsein haben, dass sich an der Stelle von Koltschak,. Wrangel und Denikin hier, mitten unter uns, der Feind befindet, der alle früheren Revolutionen zugrunde gerichtet hat? Denn wenn die Kapitalisten die Oberhand über uns gewinnen, so bedeutet das die Rückkehr zum Alten, was auch durch die Erfahrung aller früheren Revolutionen bestätigt wird. Unsere Partei hat die Aufgabe, das Bewusstsein zu wecken, dass der Feind mitten unter uns der anarchische Kapitalismus und der anarchische Warenaustausch ist. Man muss dieses Wesen des Kampfes klar begreifen: “Wer – wen? Wer wird die Oberhand gewinnen?“ Die Diktatur des Proletariats ist der härteste, der erbittertste Kampf, bei dem das Proletariat gegen die ganze Welt kämpfen muss, […]
Entweder die organisierte proletarische Macht – und die fortgeschrittenen Arbeiter wie der nicht große Teil der fortgeschrittenen Bauern werden diese Aufgabe begreifen und eine Volksbewegung um sich zu organisieren verstehen -, und dann werden wir als Sieger hervorgehen. Oder wir werden das nicht fertigbringen – und dann wird der Feind, der im Sinne der Technik über größere Kräfte verfügt, uns unweigerlich schlagen. […]
Lenin, Werke, Bd. 33, S. 40 ff
In lockerer Folge findest Du in dieser Rubrik Beiträge zum ABC oder zu Grundlagentexten des Marxismus-Leninismus. Wir führen heute fort mit Auszügen Lenins zur „Neuen Ökonomischen Politik“, übernommen aus der OFFENSIV 6-2010. Das ganze Heft kannst Du hier bestellen: Frank Flegel, redaktion@offen-siv.com (Spendenempfehlung 3,00 €).