Scheinkritizismus, pseudorevolutionäres Denken
Lucien Sebag über „Marxismus und Strukturalismus“
Von Otto Finger
Ebensowenig wie hinsichtlich der „kritischen Theorie“ kann es mit Bezug auf den Strukturalismus im Rahmen dieser Studie um eine nähere Analyse des Fehlurteils über den Marxschen Materialismus gehen. Es sollen auch hier nur antimaterialistische Positionen festgehalten werden, deren Falschheit sich erst aus der Berücksichtigung des ganzen der Marxschen philosophischen Theorie und ihrer praktischen Verwirklichung ergibt. Das bloß andeutungsweise Erwähnen antimaterialistischer Standpunkte mag hier nur grob verdeutlichen, dass der in der Grundfrage der Philosophie und ihren einander ausschließenden materialistischen oder idealistischen Antworten ausgedrückte philosophische Gegensatz der Grundrichtungen der Philosophie nichts von seiner Bedeutung eingebüßt hat. Gerade auch nicht in der imperialistischen Marxismusrezeption, die sich weltanschaulich zunächst durch nichts anderes kennzeichnet als den Versuch, das Marxsche Denken auf die idealistische Grundrichtung zurückzubiegen. Die „Strukturanalyse“, auch die strukturalistische Interpretation des Marxismus führt auf diesen philosophisch zentralen Punkt zurück. Zum Beleg dient uns hier Lucien Sebags „Marxismus und Strukturalismus“.
Ausgangspunkt der Sebagschen Erörterung des Verhältnisses von Marxismus und Strukturalismus ist die Auffassung von ersterem als einer „totalisierenden Theorie der sozialen Phänomene“, des letzteren als einer geeigneten Methode, „die Intelligibilität der Dinge, die den Menschen angehen, deutlich zu machen.“ [1/28]
Schon in dieser Grundsatzerklärung stecken zwei wesentlich idealistische Prämissen: Erstens wird vorausgesetzt, dass historische Totalität ein weniger durch Theorie zu Widerspiegelndes als zu Konstituierendes ist; sie erscheint als Akt der Theorie, eben der „Totalisation“. Zweitens ist vorausgesetzt, dass die wesentlichen historischen Verhältnisse Gedankendinge, „intelligible“ Dinge sind. Mit der Kritik am Weltanschauungscharakter des Marxschen Materialismus durch Sartre und Adorno hat die strukturalistische Attacke dies gemein: sie richtet sich gegen die vorgeblich illegitime Ausdehnung der frühmarxschen Philosophie zu einer „allgemeinen Theorie und einer dogmatischen Ontologie.“ [2/29]
Bestritten wird hier, wie in allen spätbürgerlichen Marxismusfälschungen, dass die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie nicht nachträgliche Zutat, etwa Engelsschen „Dogmatisierens“, sondern grundlegende weltanschauliche Voraussetzung der entscheidenden sozial- und revolutionstheoretischen Einsichten schon des jungen Marx ist. Freilich fehlt es auch bei Sebag nicht an Hinweisen auf die entscheidende Bedeutung der menschlichen Praxis, der Arbeit, der Produktion, der produktiven Tätigkeit: „… was verwandelt wird (durch Marx und gegenüber der philosophischen Tradition; O. F.) ist vielmehr das Subjekt selbst, das sich als praktisches, das Gegebene umwandelndes begreift und nicht mehr als Verstand. Der Materialismus erscheint daher als die einzige theoretische Position, die es erlaubt, die menschliche Praxis in ihrer eigenen Wirklichkeit zu denken …“ [3/30] Was nun aber Sebag als wesentlichen Irrtum von Marx nachzuweisen versucht, ist gerade der Materialismus, und der Angriff gegen den Materialismus wird hier wie stets außer durch idealistische sozialtheoretische Prämissen durch politische und bürgerlich-ideologische Motive gespeist. Sebag behauptet, die Aktualität der Marxschen Dialektik beruhe wesentlich auf folgendem „politischen Faktum“: die kommunistische Bewegung habe über eine ganze historische Periode hinweg einer „dogmatischen Ontologie“ den Vorzug gegeben, letztere aber habe alles verschleiert, was es an wirklich Neuem im Marxismus gegeben habe. [4/31]
Der Ausdruck „dogmatische Ontologie“ steht hier – im Rückgriff auf eine schon bei Kant vorkommende Identifizierung von Materialismus mit Dogmatismus [5/32] – für Materialismus, insonderheit für Materialismus als Weltanschauung, die universell und monistisch angelegt ist, die Einheit der Welt in ihrer Materialität begreift, vom objektiven Gesetzescharakter der Natur- und Gesellschaftsentwicklung ausgeht. Dergestalt die Dialektik von ihrem materialistischen Fundament getrennt, dies zur Entartung der ursprünglichen Marxschen Theorie erklärt, lässt sich über die Aushöhlung des Weltanschauungscharakters beider, des Materialismus und der Dialektik, zum politisch und ideologisch verkehrten, marxismuskritischen, antisozialistischen Hantieren mit ihnen übergehen.
Welchen philosophischen und politischen Wert das Operieren mit den aus der Marxschen Theorie entlehnten sozialtheoretischen Grundbegriffen der Praxis, der Produktion, der Arbeit, der produktiven Tätigkeit des Menschen hat, hängt durchaus von ihrer zunächst elementaren weltanschaulichen Deutung ab. Das Verhältnis von Wissenschaft (Philosophie) und Politik sieht Sebag so: Erstere dränge zur Schaffung einer Gesellschaft, die vernunftgemäß ist, die einer „wahren Ordnung“, dem Wesen des Menschen, seiner eigentlichen Natur entspricht. Alle Philosophie ziele hierauf, auf den Menschen. Der Mensch sei „etwas“, er hat ein „Wesen“, er lässt sich nicht als seine Existenz definieren. Wie er aber sei, sei er unfertig. Politik habe nun den Zweck, diese „Unfertigkeit“ zu reduzieren. Die Philosophie Marx’ habe so mit derjenigen Platons, Kants oder Rousseaus dies gemeinsam: zu sagen – hierfür eine Rede, philosophische Sprache zu entwickeln – was ist. Politisches Handeln habe die Aufgabe, dieses „Sein in die Existenz“ zu bringen. Das gelte für alle Praxis, und zwar sobald sie ihre „Abhängigkeit von einem System rationaler Normen bejaht.“ [6/33]
An die Stelle der „dogmatischen“, sprich materialistischen „Ontologie“ treten die durch Marx’ theoretische Arbeit überwundenen Dogmen des Geschichtsidealismus und einer überhistorischen Anthropologie. Der prinzipielle weltanschauliche Gegensatz zwischen Marx und aller vorherigen Philosophie wird verwischt, um ihn in die bürgerliche Tradition zurückzuzwängen. Keineswegs drängt alle Philosophie auf eine vernunftmäßige Ordnung. Selbst wenn wir von der ausgesprochen – oder unausgesprochen – irrationalistischen Philosophie, speziell der der nimperialistischen Gesellschaft absehen, die ja gegen den Rationalismus der Philosophie der Arbeiterklasse, gegen ihren Anspruch, die notwendig revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen in die sozialistische [-sozial-ökonomisch-ökologisch-emanzipatorische] Gesellschaft wissenschaftlich rational zu begründen, die Irrationalität und folglich theoretische und praktische Unbeherrschbarkeit des Geschichtsprozesses behauptet: Die vormarxsche Philosophie vermochte die vernunftgemäße Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse bestenfalls als ein Ideal zu verkünden, für dessen Verwirklichung sie gerade keine rationalen Instrumente zu entwickeln wusste.
Was Marx in puncto dieser bürgerlichen Prophetien über das künftige Reich der gesellschaftlichen Vernunft aufwies, war gerade die höchst einseitige, bornierte Bindung des Vernünftigen an die Interessenlage der bürgerlichen Klasse, an die bürgerliche Klassen-“Vernunft“. Die „wahre“ Ordnung entpuppt sich als Projektion bürgerlicher Verhältnisse in die zurückliegende Geschichte oder die angestrebte kapitalistische Zukunft. Das gleiche gilt für Marx’ und Engels’ Entlarvung der idealistisch-anthropologischen Unterordnung der realen Geschichte unter das spekulativ konstruierte Wesen des Menschen, unter die dogmatische Vorstellung von einer „eigentlichen“ Natur des Menschen. –
Marx’ grundlegende Formel vom Wesen des Menschen als dem Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse und der Nachweis, dass diese gesellschaftlichen Verhältnisse stets konkret-historische, gewordene und sich mit der Produktionsweise des materiellen Lebens verändernde und entwickelnde Beziehungen, Klassenverhältnisse sind, ist das philosophisch materialistische Fundament der Überwindung von Anthropologie. –
Der Versuch, sie zu restaurieren, ist folglich ein ideologisches Unternehmen zur Eliminierung der Triebkräfte und Entwicklungsformen der Gesellschaft, zur Verschleierung der Klassengegensätze und des ihnen zugrunde liegenden Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als der die vorsozialistische Geschichte wesentlich prägenden objektiven Widerspruchsdialektik. –
Politik kann von daher ganz und gar nicht als die abstrakte Anstrengung gefasst werden, das philosophisch begriffene „Sein“ in die „Existenz“ zu bringen, das überhistorische „Wesen“ des Menschen zu verwirklichen, sondern ist Inbegriff aller Aktionen, in denen präzis bestimmbare Klassenziele realisiert werden sollen. –
Der tatsächliche Zusammenhang von Wissenschaft und Politik sowie von Philosophie und Politik wird durch Anthropologie, welchen Typs auch immer, ebenso verschleiert, wie er aufgedeckt und im Interesse der Arbeiterklasse beherrschbar wird, wenn als sein Angelpunkt die historische Bewegung gesellschaftlicher Klassen begriffen ist. –
Philosophie drückt in ihrem Kern, wir haben dies auch angesichts der anthropologischen Prämissen des Strukturalismus zu betonen, Klassenbewusstsein aus, die Struktur philosophischen Bewusstseins korrespondiert mit der objektiv-geschichtlichen Stellung der Klasse, nicht des Menschen in einer Gesellschaftsformation. –
Diese Entsprechung auch für falsches, und das ist für Marx, Engels und Lenin wesentlich idealistisches Bewusstsein, nachgewiesen zu haben, ist eine wichtige Leistung der historisch-materialistischen Ideologieanalyse. Und in seiner ideologischen Funktion mobilisiert philosophisches Bewusstsein nichts anderes als die Klassenaktion, das praktisch-politische Verhalten der Klassenkräfte. Dies ist der ebenso allgemeine wie entscheidende Aspekt des Philosophie-Politik-Verhältnisses. Dem in ihm ausgedrückten Zusammenhang unterliegt durchaus auch die strukturalistische Marxismusfälschung und Gesellschaftsdeutung: ihr Idealismus, ihre Anthropologisierungen, ihre idealistischen Deutungen des Menschen, der Erkenntnisprozesse, der Praxis, der Triebkräfte geschichtlichen Handelns, der praktischen Politik, der Revolution usf. gehen ein in wesentliche Linien imperialistischer Ideologie und Politik. Sie gehören insonderheit in das Feld der imperialistischen Abwehrreaktionen auf materialistisch-dialektische Theorie und revolutionäre Praxis des Sozialismus.
Sebag stellt als eine der übergreifenden Fragen seinen Erörterungen diese voran: Ob die Wissenschaft nicht die Möglichkeit bieten müßte, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen dem, was dem authentischen Sein des Menschen entspricht, und dem, was ihn nur indirekt angeht, zu unterscheiden [7/34]. „Wahre Ordnung“, „eigentliche Natur des Menschen“, „Wesen des Menschen“, „authentisches Sein des Menschen“: dass Sebag von diesen Begriffen als idealistischen ausgeht, prägt die philosophische Grundhaltung aller Erörterungen. Und er setzt ihnen auch expressis verbis und programmatisch einen idealistischen Menschbegriff voraus: „Die Philosophen pflegen immer zu erklären, dass der Mensch ist, was er nicht ist, und dass er nicht ist, was er ist; so wird die negative Kraft, die ihm innewohnt, und die Tatsache, dass er niemals durch seine augenblickliche Bedingung definiert werden kann, deutlich herausgestellt. Aber das reicht noch nicht aus; müßte man nicht in einer etwas vollkommeneren Sprache sagen, dass der Begriff des Menschen, alle seine empirischen Verwirklichungen übersteigt? … wenn der Begriff einmal gesetzt ist, eröffnet er den Weg einer unendlichen Stufenleiter von Umwandlungen, die seine Möglichkeiten offenbar machen. Der Mensch entgeht also der Regel nicht, ihn charakterisiert jedoch, und das ist nur eine Banalität –, dass er sein eigener Begriff ist und dass er es frei unternehmen kann, in seinem Alltagsleben die Möglichkeiten zu realisieren, die der Begriff einschließt, dessen Träger er ist. Das politische Handeln ist einer der Modi dieser Verwirklichung.“ [8/35] Der Mensch – das ist also gemäß der hier vorausgesetzten begriffsidealistischen Anthropologie – der Begriff seiner selbst, Freiheit wird zum bloßen Realisieren der im Menschenbegriff angelegten Möglichkeiten, Politik zu einer dieser Verwirklichungsweisen.
Der Marxsche Materialismus gibt Auskunft über die Irrealität und Undurchführbarkeit dieser Bestimmungen. Marx hat auch gezeigt, inwiefern solche Vergeistigung der historischen Realität und des praktischen Handelns der Menschen mehr tut als bloß die Wirklichkeit zu mystifizieren. –
Den Menschen zum Begriff verflüchtigen heißt, die Möglichkeit und Notwendigkeit wirklicher revolutionärer Aktion ausschließen, deren Wesen gerade darin liegt, dass sie nicht den Begriff vom Menschen realisiert und umwälzt, sondern die materiellen Verhältnisse, die überschreitbare Stufen der Entfaltung seiner materiellen und geistigen Produktivkräfte bilden. –
Einer der tiefsten Gründe des radikalen Bruchs der marxistisch-leninistischen Philosophie mit allem und jedem Idealismus liegt in diesem Punkt: Idealismus verschleiert Möglichkeit, Resultat revolutionären Handelns als primär praktisch gegenständliche, nämlich materielle gesellschaftliche Verhältnisse umwälzende Tätigkeit. –
Für die Anbetung der Idee als der Treibenden, gleichgültig, ob es sich um den Begriff des Menschen, der vernunftgemäßen Ordnung oder der Praxis, der Arbeit, der Revolution handelt, gilt noch immer in all seiner, das konservative, antirevolutionäre Wesen jeden Idealismus kennzeichnenden Bedeutung dieses Marxwort aus der „Heiligen Familie“:
„Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten.“ [9/36] –
Selbst die imperialistische Bourgeoisie könnte ihren Frieden mit der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie machen, wenn sie auf jenen Illusionismus zurückzubringen wäre, auf dem Sebags Positionen sich bewegen, dass nämlich das politische Handeln und die Revolution der Arbeiterklasse sich in einem begrifflichen Kraftakt erschöpfen, da sie ja nur eine der Möglichkeiten des Begriffs vom Menschen zu realisieren hätte. –
Mit einer idealistisch-anthropologischen Karikatur auf den materialistisch revolutionären Geist des Marxismus-Leninismus hat sich die imperialistische Ideologie nicht nur längst ausgesöhnt, sondern sie setzt die anthropologischen Verfälschungen der marxistischen Philosophie in zunehmendem Maße für Zwecke antisozialistischer Diversion ein. [- 1973 – 1988/89/90/91 -]
Sebag hält in der zitierten Schrift den idealistischen Ausgangspunkt durch: der Marxismus selbst wird idealistisch „ergänzt“ und revidiert und alle von ihm aufgeworfenen Fragen – insonderheit die nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Ideologie – werden auf idealistischer Grundlage beantwortet.
Wie bei Sartre und Adorno spielt auch in der strukturalistischen Theorie der Rückgriff auf Lukács’ Auffassungen vom Beginn der zwanziger Jahre – von denen er sich später distanzierte – über die Rolle der Kategorie der Totalität im Marxismus und in der Sozialtheorie eine besondere Rolle. Lukács’ wird zum Kronzeugen für die Behauptung genommen, dass der Marxismus insgesamt nur vom Totalitätsbegriff her verständlich werde, Sebag zitiert ebenso wie Lucien Goldmann [10/37] die These Lukács’ von 1923, wonach der Marxismus sich nicht durch die „Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtsschreibung“ von der bürgerlichen Gesellschaft unterscheide, sondern durch den Gesichtspunkt der Totalität [11/38]. Dem marxistischen „Ratschlag“, die ökonomischen Motivationen im Verständnis des Sozialen in den Vordergrund zu stellen, ständen andere Interpretationen gegenüber, etwa solche, die dem Religiösen oder Politischen eine Vorrangstellung einräumen. Sebag lehnt den materialistischen Kernpunkt der marxistisch-leninistischen Philosophie und Gesellschaftswissenschaft überhaupt ab. Er geht von folgender Überlegung aus: Ob sich Recht, Politik, Religion auf Wirtschaftliches zurückführen ließen, oder ob sie „ein bestimmtes Modell menschlicher Beziehungen ausdrücken, das seinen Ursprung in den Produktionsverhältnissen hat, ob sie schließlich weder Reflex, noch einfache Transponierung, sondern Aktualisierung in einem bestimmten Bereich einer Struktur sind, die der Totalität der Gesellschaft sind“ – das alles ließe sich erst nach einer theoretischen Behandlung jeder der einzelnen Bereiche ermitteln. Überraschende Konsequenz: „Das schließt schon in diesem Stadium eine Theorie aus, die den Primat des Wirtschaftlichen für das Ganze der menschlichen Geschichte behauptet.“ [12/39]
Warum die Notwendigkeit, die ökonomische Basis und die verschiedenen Elemente des Überbaus theoretisch untersuchen zu müssen, den Materialismus als Resultat dieser Untersuchung, die Feststellung also, dass die ökonomische Basis den politischen und ideologischen Überbau bestimmt, ausschließen soll, ist absolut uneinsichtig. Es sei denn, und gerade das tut Sebag, der Idealismus wird zum methodischen Dogma jeder dieser Untersuchungen. Dann freilich wird nicht die Unmöglichkeit des materialistischen Resultats bewiesen, sondern bereits vorausgesetzt. Man dürfte, vermutet Sebag am zitierten Ort in einer Anmerkung, nicht aus dem Auge verlieren, dass die Anerkennung des Primats des Wirtschaftlichen ein Existenzurteil ist, das nach empirischer Prüfung verlangt und durch keine Deduktion begründet werden könne. Die Wissenschaften vom Menschen seien weit davon entfernt, so allgemeine Sätze beweisen zu können.
Hierzu ist festzuhalten: Marx, Engels und Lenin haben in keinem einzigen Fall materialistische Aussagen – betreffend allgemeine Gesetze geschichtlicher Bewegung oder auch sehr konkrete Prozesse des revolutionären Kampfes in einer bestimmten historischen Situation – in der Weise der Scholastik und des spekulativen Idealismus deduziert. Vielmehr haben sie aus einer riesigen Fülle historisch vorliegenden Stoffes, der Bewegung der materiellen und geistigen Produktion der Gesellschaft die objektiven Zusammenhänge und Entwicklungsgesetze beider ermittelt. –
Sie haben nicht von einem vorgegebenen philosophischen Prinzip auf die Geschichte geschlossen, sondern umgekehrt aus der empirischen Geschichte selbst die Prinzipien entwickelt, nach denen ihrem Gesetz auf die Spur zu kommen ist. Und dabei – auch dies unterscheidet ihr Vorgehen zunächst noch überhaupt nicht von Naturerkenntnis, soweit sie wissenschaftlich geschieht – an historisch vorliegende Denkmodelle angeknüpft. Die materialistische Denkweise hat sich dabei als grundsätzlich richtige Erfassung der Realität erwiesen.
Wenn Lenin von der „Ausdehnung“ des Materialismus auf die Untersuchung der Gesellschaft spricht, so lenkt er den Blick auf zweierlei: die Grundlegung der Wissenschaft von der Gesellschaft ist untrennbar vom Produktivmachen einer langen Tradition des Materialismus, materialistischer Denkweisen in der vorherigen Philosophie und Naturwissenschaft. Diese Tradition hat nicht bloß „entfremdetes“ Bewusstsein – sofern es philosophisches Bewusstsein ausbeutender Klassen oder von unterdrückten Klassen war, die ihre geschichtliche Stellung noch nicht adäquat erfassen konnten – erzeugt. Sie enthält auch zu bewahrende, weiterzutreibende Elemente wissenschaftlicher Realitätserkenntnis überhaupt. Dazu gehört die Einsicht in das Primat materieller vor ideellen Prozessen, in das Wirken objektiver Gesetze in der Realität, das Begreifen des Kausalverhältnisses als eines objektiv-realen und in menschlicher Praxis beherrschbaren usf.«
Anmerkungen
1/28 L. Sebag, Marxismus und Strukturalismus, Frankfurt/M. 1967, S. 14.
2/29 Ebenda, S. 73.
3/30 Ebenda, S. 74.
4/31 Vgl. ebenda, S. 50.
5/32 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Ausgabe.
6/33 Vgl. L. Sebag, Marxismus und Strukturalismus, S. 9.
7/34 Vgl. ebenda, S. 8.
8/35 Ebenda.
9/36 Friedrich Engels und Karl Marx. Die heilige Familie, S. 126.
10/37 Vgl. L. Goldmann, Dialektische Untersuchungen, Neuwied 1966.
11/38 Vgl. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S. 39.
12/39 L. Sebag, Marxismus und Strukturalismus, S. 118 f.
Quelle: Philosophie der Revolution, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 2.4. Lucien Sebag über „Marxismus und Strukturalismus“, in: 2. Kapitel: Existenzialismus, Strukturalismus, „Kritische“ Theorie – Scheinkritizismus, pseudorevolutionäres Denken und Materialismusfeindlichkeit.
14.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)