Revolutionäre Weltanschauung der Werktätigen

Neuer Materialismus und revolutionäre Weltanschauung der werktätigen Massen, materialistischer Praxisbegriff

von Otto Finger

»Die „heilige Familie“ bereitet zunächst eine Reihe elementarer materialistischer Einsichten in das Wesen geschichtlicher Realität und historischen Fortschritts vor. Die „Kritische Kritik“ könne, heißt es im VII. Kapitel, noch nicht einmal an den Anfang der Erkenntnis geschichtlicher Wirklichkeit kommen, „solange sie das theoretische und praktische Verhalten des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließt.

Oder meint sie irgendeine Periode in der Tat schon erkannt zu haben, ohne z. B. die Industrie dieser Periode, die unmittelbare Produktionsweise des Lebens selbst, erkannt zu haben?“ Die Traditionen des alten sensualistischen und empiristischen Materialismus aufnehmend und zur sozialtheoretischen Kritik am Geschichtsidealismus weitertreibend, wird dann gesagt: „Wie sie (die junghegelianische Spekulation; O. F.) das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe, sich selbst von der Welt trennt, so trennt sie die Geschichte von der Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie nicht in der grob-materiellen Produktion auf der Erde, sondern in der dunstigen Wolkenbildung am Himmel die Geburtsstätte der Geschichte.“ [1/3]

Die „Geburtsstätte“ der Geschichte ist die materielle Produktion, der materiell-ökonomische Angelpunkt der neueren Geschichte, der bürgerlichen Epoche, ist die Industrie.

Mit der „Heiligen Familie“ setzt ein Konkretisierungsprozess des materialistischen Ansatzes der „Manuskripte“ ein, der von der Kategorie Arbeit zur Kategorie Produktionsweise, vom Begriff Entfremdung zur Kategorie Produktionsweise hinführt. In den „Philosophischen Heften“, und zwar im Konspekt über die „Heilige Familie“, das Lenin ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen, 1895, angefertigt hat, betont er diesen Sachverhalt nachdrücklich. Lenin zitiert die folgende Stelle: „Die Vorstellung des ,gleichen Besitzes’ ist der nationalökonomische, also selbst noch entfremdete Ausdruck dafür, dass der Gegenstand als Sein für den Menschen, als gegenständliches Sein des Menschen, zugleich das Dasein des Menschen für den andern Menschen, seine menschliche Beziehung zum andern Menschen, das gesellschaftliche Verhalten des Menschen zum Menschen ist. Proudhon hebt die nationalökonomische Entfremdung innerhalb der nationalökonomischen Entfremdung auf.“ [2/4] An dies Zitat knüpft Lenin die Feststellung: „Diese Stelle ist ganz besonders charakteristisch, denn sie zeigt, wie sich Marx der Grundidee seines ganzen ,Systems’, sit venia verbo – nämlich der Idee der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse nähert.“ [3/5]

Gemäß der Polemik gegen den elitären Standpunkt der Junghegelianer, ihrer Selbstüberhebung zum über der passiven Masse schwebenden aktiven Geist und gemäß der Erkenntnis, dass die moderne Geschichte wesentlich durch die „grob-materielle“ Produktion der Industrie bestimmt ist, wird in der „Heiligen Familie“ das folgende Wesensmerkmal der kommunistischen Weltanschauung und der Revolutionstheorie näher ausgearbeitet: Sie ist eine Weltanschauung der werktätigen Massen, und sie ist eine Theorie der revolutionären Aktivität der Volksmassen, diese Aktivität ebenso theoretisch begründend wie ideologisch mobilisierend. Im Anschluss an die eben zitierte Passage findet sich der Hinweis, dass die „kritische Kritik“ den Repräsentanten der „verstockten“ und „herzensharten“ Masse als „massenhaften Materialisten“ abfertigen würde. Um diesen Terminus aufzugreifen: der von Marx und Engels speziell seit der „Heiligen Familie“ begründete historisch-materialistische Standpunkt über die Rolle der Industrieproduktion in der Geschichte ist ein „massenhafter Materialismus“. Auch in folgendem Sinne: Er vertritt die Lebensinteressen der arbeitenden Massen, und zwar die materiellen, objektiv gesellschaftlich bedingten Lebensinteressen der übergroßen Mehrheit aller Menschen.

Es ist so auch ein Materialismus, der die Partei für diese Massen ergreift, der keinen Augenblick lang beansprucht, über den entscheidenden gesellschaftlichen Parteien, jenseits des Gegensatzes zwischen arbeitender Mehrheit und aneignender Minderheit zu stehen. An das Bekenntnis zum Prinzip der Parteilichkeit schon in der „Heiligen Familie“ in genau diesem Zusammenhang zu erinnern tut not, wenn wir an den Scheinobjektivismus heutiger „kritischer Theorie“ denken. –

Der Anspruch auf Überparteilichkeit entpuppte sich schon damals als die Form, in der sich die bornierte Parteinahme für bornierte, partielle, den Interessen der Massen entgegengesetzte Interessen ausspricht.

Und diese Überparteilichkeit verweist auf das idealistisch-illusionäre Wesen der Vorstellungen ihrer Verfechter zurück: „Wie die kritische Kritik sich über alle dogmatischen Gegensätze zu erheben meint, indem sie an die Stelle der wirklichen Gegensätze den eingebildeten ihrer selbst und der Welt, des heiligen Geistes und der profanen Masse setzt, so glaubt sie sich über die Parteien zu erheben, indem sie unter den Parteistandpunkt herabfällt, indem sie sich selbst als Partei der übrigen Menschheit gegenüberstellt, und alles Interesse in der Persönlichkeit des Herrn Bruno & Comp. konzentriert.“ [4/6]

Die Revolution wird nicht als Effekt der kritischen Idee, sondern als praktische Aktion der Massen begründet. Praxis ist durchaus als materialistischer Begriff in der „Heiligen Familie“ entwickelt, und zwar mit politisch revolutionärem Akzent. In dem aus der Feder Friedrich Engels’ stammenden Abschnitt 2. b) des VII. Kapitels „Die ,weichherzige’ und ,erlösungsbedürftige’ Masse“ verdeutlicht Engels den Gegensatz zwischen einer Verabsolutierung der geistigen Tätigkeit und wirklicher gesellschaftlicher Praxis mit dem Hinweis auf den Unterschied zwischen der Art „Kritik“, wie sie die deutschen Junghegelianer einerseits und die französischen und englischen Sozialisten andererseits üben:

Die Kritik der Franzosen ist nicht so eine abstrakte, jenseitige Persönlichkeit, die außer der Menschheit steht, sie ist die wirkliche menschliche Tätigkeit von Individuen, die werktätige Glieder der Gesellschaft sind, die als Menschen leiden, fühlen, denken und handeln. Darum ist ihre Kritik zugleich praktisch, ihr Kommunismus ein Sozialismus, in dem sie praktische, handgreifliche Maßregeln geben, in dem sie nicht nur denken, sondern noch mehr handeln, ist die lebendige, wirkliche Kritik der bestehenden Gesellschaft …“ [5/7] –

Hier nicht und in keinem der späteren Texte haben Marx und Engels ihren konsequent materialistischen Standpunkt etwa im Zeichen einer so verstandenen Praxis aufgegeben, dass der wesentliche Unterschied zwischen Denken und Handeln verwischt wurde, dass also etwa Praxis Einheit beider, die Synthese von Sein und Bewusstsein und dergleichen wäre. Heutige „Praxis“-Philosophie fällt selbst hinter diesen frühen und elementaren materialistischen Standpunkt der „Heiligen Familie“ zurück.

Der Materialist Friedrich Engels lässt bereits in diesem frühen Dokument ebensowenig wie Karl Marx den geringsten Zweifel daran, dass das Primat in jedem beliebigen historischen Prozess der Praxis als gegenständlichem Handeln gebührt. Und dass erst auf dieser Grundlage vom denkenden, fühlenden, leidenden Menschen gesprochen werden kann. Das will freilich auch hier schon dies sagen: Diese wirkliche menschliche Tätigkeit erzeugt das Denken und Fühlen als zum wirklichen Ganzen des Menschen gehörig.

Herausgehoben zu werden verdient ferner die Engelssche Betonung der menschlichen Tätigkeit als werktätigem Handeln und als gesellschaftlicher Praxis.«

[Hervorhebungen: R. S.]

Anmerkungen

1/3 Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1958, S. 159.

2/4 Ebenda, S. 44.

3/5 W. I. Lenin, Konspekt zu Marx’ und Engels’ Werk ,Die heilige Familie’, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 15.

4/6 F. Engels u. K. Marx, Die heilige Familie, S. 167.

5/7 Ebenda, S. 162.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975.

Studie von Otto Finger. Vgl.: 4.2. Neuer Materialismus und revolutionäre Weltanschauung der werktätigen Massen, materialistischer Praxisbegriff, in: 4. Kapitel: Materialismus und revolutionäres Klassenbewusstsein contra nsubjektiven Idealismus (zur aktuellen weltanschaulichen Bedeutung der „Heiligen Familie“).

17.04.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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