Revolutionäre Emanzipation der Arbeiterklasse
Materialistisch-dialektische Bestimmung des Verhältnisses von Spontaneität und Bewusstheit
Von Otto Finger
»Die Wechselbeziehung von ökonomischen und politischen Klassenkampf sowie die Rolle der Bewusstheit in der revolutionären Emanzipation der Arbeiterklasse vom Kapitalismus werden in der Arbeit „Was tun?“ näher untersucht. Vorbereitet wird dieses klassische Werk der Leninschen Etappe der Philosophie und Revolutionstheorie durch eine Reihe kleinerer Arbeiten. Außer durch den eben berührten „Protest“ vor allem durch die Aufsätze „Womit beginnen“ und „Eine Auseinandersetzung mit Verteidigern des Ökonomismus“ (beide erschienen 1901 in der „Iskra“).
Im letztgenannten Artikel formuliert Lenin die philosophische Hauptfrage, die den Auseinandersetzungen mit dem ökonomischen Opportunismus, den Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Taktik, des Herangehens an die Organisierung der Tätigkeit der Partei der Arbeiterklasse zugrunde lag. Es ist die Frage nach der Dialektik vom gegebenen sozialen Milieu und dem bewussten Handeln der Revolutionäre, nach den spontanen Elementen der Bewegung und den ideologischen als den bewussten und planmäßig vorgehenden. Lenin antwortet dabei auf Einwürfe ökonomistischer Theoretiker gegen die Linie der „Iskra“. Die „Iskra“ war die erste von Lenin geleitete gesamtrussische politische Zeitung der Arbeiterbewegung, deren Hauptziel darin bestand, die Voraussetzungen für die Schaffung einer revolutionären Kampfpartei zu organisieren. Ihre Kritiker erhoben den Vorwurf, dass sie die Rolle der Ideologie, des Programms, der Theorie überbewerte. Sie würde zu wenig die materiellen Elemente der Bewegung und das materielle Milieu beachten, durch deren Wechselwirkung ein bestimmter Typ der Arbeiterbewegung hervorgebracht und ihr Weg bestimmt würden.
Lenin antwortet hierauf: Die Argumentation übersieht, dass überhaupt nur derjenige die Bezeichnung Ideologe verdient, der der spontanen Bewegung vorangeht. Unter dem Ideologen versteht Lenin nichts anderes als den bewussten Führer der Bewegung. Seine Aufgabe ist es, früher als andere die theoretischen, politischen, praktischen und organisatorischen Fragen zu lösen, auf die die spontane Bewegung stößt. Zur spontanen Bewegung darf man sich nicht unkritisch verhalten. Vielmehr muss man es verstehen, die Spontaneität auf dass Niveau der Bewusstheit zu heben.
Dem Einwand, dass die Ideologen, also die bewussten Führer, die Bewegung nicht vom Weg abbringen könnten, der durch die Wechselbeziehung von Milieu und Elementen bestimmt werde, entgegnet Lenin, „dass das Bewusstsein an dieser Wechselwirkung und dieser Bestimmung mitwirkt“. [1/79] Lenin nennt dies eine Binsenweisheit. Gerade sie aber war vom Opportunismus der II. Internationale verschüttet worden. Der Rückfall in mechanistisch beschränkte Milieutheorie, eine Auffassung von Objektivität, worin das revolutionär tätige Subjekt untergeht, damit die Herabsetzung der Rolle des Klassenbewusstseins – das sind philosophische Ausdrücke der verkehrten politischen Grundauffassung des Opportunismus. Im Namen einer vom Handeln der Menschen losgelösten „objektiven“ Bewegung wird die Revolution als automatischer Effekt dieser Bewegung in eine ferne Zukunft verlegt. Es ist ein Schein-Objektivismus, hinter dem sich die durchaus subjektivistische Unterschätzung der Kraft der Arbeiterklasse verbirgt. Er übernimmt ein Klassenvorurteil der Bourgeoisie, wenn er in dieser Weise die Handlungsfähigkeit des Proletariats predigt und seine Aktivität auf ökonomische Alltagsinteressen eingrenzen will. Dieser Pseudomaterialismus, diese undialektische Betrachtung das materiellen gesellschaftlichen Seins als eines automatischen Prozesses läuft auf das gleiche Ergebnis hinaus wie die subjektiv-idealistische Auslöschung der objektiven Bedingungen in den illusionären Kraftakten des kritischen Bewusstseins der auserwählten Geschichtsproduzenten. In beiden Fällen wird die historische Rolle der Arbeiterklasse geleugnet.
Lenin hatte auf den Pseudomaterialismus der eben genannten objektivistischen Denkweise schon in der Kritik am legalen Marxismus Peter Struves hingewiesen. Er nannte es in der Arbeit „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung“ die Sprache eines Objektivisten, nicht aber die eines marxistischen Materialisten, wenn von der Notwendigkeit eines historischen Prozesses, von unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen geredet und übersehen würde, dass historische Notwendigkeiten und Tendenzen nicht anders als durch Handeln und Kämpfen gesellschaftlicher Klassen bestimmt werden. Der Objektivist laufe deshalb, wenn er die Notwendigkeit geschichtlicher Tatsachen nachweise, Gefahr, zum Apologeten eben dieser Tatsachen zu werden. [2/80]
Nur der parteiliche und konsequente, jede beliebige soziale Erscheinung bis auf ihr Klassenwesen durchdringende Materialismus schließt solche Apologetik aus. Dieser marxistische, dialektische Materialismus erfasst die historische Notwendigkeit als Entwicklungsprozess von Klassenkämpfen. Er klärt, welche Klasse bestimmte Stufen dieser Entwicklung, den Inhalt einer sozialökonomischen Formation, festlegt. Er ergreift die Partei der fortschrittlichen Klasse, bewertet jedes Ereignis vom Standpunkt einer bestimmten Klasse und begründet, dass die Veränderung gegebener Verhältnisse nicht anders als durch das Handeln der Produzenten geschieht. So schließen sich Anerkennung des Primats der materiellen Produktionstätigkeit und revolutionärer Standpunkt, der Standpunkt der revolutionären Veränderbarkeit der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse zu einem einheitlichen Ganzen zusammen.
Lenin verteidigt gegen den Vulgärmaterialismus des opportunistischen Ökonomismus jenen Grundzug des dialektischen Materialismus, der mit der Klärung von Geschichte als einem Entwicklungsprozess der gesellschaftlichen Produktion und der Klassenkämpfe auch den Platz des gesellschaftlichen Bewusstseins im Geschichtsprozess aufhellt. Lenin setzt diese Linie des marxistischen historisch-materialistischen Denkens, die Begründung der aktiven Rolle der Theorie und Ideologie, unter den neuen Bedingungen fort. Er bereichert diesen Standpunkt um neue Erkenntnisse, die unter den neuen Bedingungen notwendig geworden sind. Nicht zuletzt deshalb notwendig, weil mit dem Übergang zum Imperialismus und somit der Erzeugung von Opportunismus als einer massiv und international auftretenden Erscheinung der ideologische Klassenkampf zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Versuche der Infiltration bürgerlicher Ideologie in die Arbeiterbewegung werden zu einem Hauptinstrument der imperialistischen Bourgeoisie, die Arbeiterbewegung vom revolutionären Weg abzubringen, sie wieder ins Schlepptau ihrer Politik zu nehmen. Eine Voraussetzung für die Praktizierung dieser Versuche ist aber gerade die Verbreitung der vulgärmaterialistischen Vorstellung, dass die Theorie und Ideologie gar keine oder nur eine nebensächliche Rolle spiele.
Die Verbreitung dieser für den Opportunismus typischen Vorstellung ist selbst bereits ein Stück bürgerlicher Ideologie und Voraussetzung für ihre Verbreitung in der Arbeiterbewegung. Lenins Kampf mit dem Ökonomismus löst dadurch ein politisches Grundproblem nicht nur der sich formierenden russischen, sondern auch der internationalen Arbeiterbewegung. Lenin legt in dieser Auseinandersetzung mit dem Ökonomismus die Grundsteine für die Zerschlagung des internationalen Opportunismus, die Wiederherstellung des unverfälschten Marxismus und die Befähigung der internationalen Arbeiterbewegung, ihre revolutionäre Kraft unter den neuen, imperialistischen Bedingungen zu entfalten.
Zur Demonstration der genannten „Binsenweisheit“, dass das Bewusstsein an der Dialektik der geschichtlichen Bewegung mitwirkt, verweist Lenin auf die politische Wirkung klerikaler und monarchistischer Ideologie in der Arbeiterbewegung. „Die katholischen und monarchistischen Arbeiterverbände in Europa sind ebenfalls ein notwendiges Resultat der Wechselwirkung von Milieu und Elementen.“ [3/81] Allerdings habe an dieser Wechselwirkung das Bewusstsein der Pfaffen und der Vertreter des Absolutismus mitgewirkt, nicht aber das Bewusstsein der Sozialisten.
Lenin stellt sich in „Was Tun?“ Die Klärung dreier Fragen zur Aufgabe: nach dem Charakter und dem Hauptinhalt der politischen Agitation, den organisatorischen Aufgaben, dem Plan für den Aufbau einer kampffähigen gesamtrussischen Organisation. [4/82] Angesichts des Einflusses des Ökonomismus in der russischen Arbeiterbewegung konnte die Klärung dieser drei Fragen nur in Form einer grundlegenden Kritik des Opportunismus, seines Verhältnisses zu den spontanen Massenbewegungen geschehen, in Gestalt einer prinzipiellen Klärung „des Unterschieds zwischen trade-unionistischen (einer auf gewerkschaftliche Kampfformen und ökonomischen Interessen eingeschränkten; O. F.) und sozialdemokratischer Politik (der Politik einer revolutionären Kampfpartei, die die revolutionären Traditionen der marxistischen Arbeiterbewegung fortsetzt; O. F.)…“ [5/83]
In organisatorischen Fragen ging es um den Gegensatz von ökonomistischer „Handwerklerei“ und der Organisation der Revolutionäre, als die Lenin die Partei von Anbeginn und in vollständiger Übereinstimmung mit dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ verstand. Die Antwort auf alle drei Fragen hängt von der Lösung eines übergreifenden Problems ab, dem Verhältnis zwischen Spontanität und Bewusstheit. Aus der Verabsolutierung der Spontaneität, d. h. dem ökonomischen Kampf, der ohne das Bewusstsein von den revolutionären Zielen der Arbeiterklasse sich vollziehenden Bewegung – ergibt sich ein nicht revolutionärer, sondern reformistischer Inhalt der Agitation, der Politik und der Organisationsprinzipien.
Die Grundzüge des Opportunismus, gegen die Lenin seine Lehre von der Partei entwickelt, fasst er so zusammen:
– Verwandlung der Partei aus einem Instrument der sozialen Revolution in ein Mittel sozialer Reformen. Diese parteipolitische Hauptforderung des Opportunismus ruht auf folgenden Standpunkten:
– Leugnung der Möglichkeit, den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen, seine Notwendigkeit historisch-materialistisch zu beweisen.
– Leugnung der Verschärfung der kapitalistischen Widersprüche, der zunehmenden Verelendung und des Wachstums des Proletariats.
– Leugnung der Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats.
– Leugnung des sozialistischen Ziels der Bewegung.
– Verwischung des Gegensatzes zwischen bürgerlichem Liberalismus und proletarischem Sozialismus.
– Leugnung der Theorie des Klassenkampfes angesichts der „demokratischen Gesellschaft“ des Kapitalismus. [6/84]
Opportunismus bedeutete also um die Jahrhundertwende [19./20. Jh.] und bedeutet heute [20./21. Jh.] zunächst nichts anderes als Aufbau einer gegenrevolutionär-reformistischen Ideologie und Politik innerhalb der Arbeiterbewegung mittels Negation der grundlegenden philosophisch-theoretischen Erkenntnisse des Marxismus und der aus ihnen folgerichtig abgeleiteten politisch-revolutionären Maßregeln. Daraus ergibt sich, dass die Rolle der Theorie zu einem Problem von höchstem Rang wurde. Das Verhältnis zur Theorie und zur Bewusstheit als dem wissenschaftlich begründeten Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse wurde zu einer Kernfrage, an der sich revolutionäres und opportunistisches Handeln schieden. Lenin verleiht dem im berühmten Leitsatz revolutionärer Arbeiterpolitik Ausdruck: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“ [7/85]«
„Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“
»Lenin setzt hiermit die Grundlinie der materialistisch-dialektischen Auffassung über das Theorie-Praxis-Verhältnis fort, wie es der junge Marx begründet hatte. Engels hatte sie bereits seit den siebziger Jahren [19. Jh.] gegen eine Tendenz zur Unterschätzung sowohl der Philosophie der Klassik als auch zur Vulgarisierung des Marxismus und zur Missachtung der weltanschaulich-philosophischen Grundlagen für die Festigkeit und Kampfkraft der Partei zu verteidigen. In diesem Zusammenhang begründete Friedrich Engels namentlich in der Vorbereitung zum „Deutschen Bauernkrieg“ die Notwendigkeit, den Kampf nach drei Seiten zu führen: nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen. Der Kampf nach diesen drei Seiten muss „im Einklang und Zusammenhang und planmäßig geführt“ werden. Lenin bezieht sich auf diesen Grundgedanken von Friedrich Engels zur Lehre vom Klassenkampf. [8/86] Er entwickelt ihn zu einem umfassenden Konzept für die ideologischen Führungsaufgaben der Partei weiter. Die Notwendigkeit hierfür charakterisiert Lenin mit dem Hinweis auf diese drei Tatsachen:
Erstens die Tatsache, dass am Jahrhundertbeginn die revolutionäre Kampfpartei des russischen Proletariats eben „erst ihr eigenes Gesicht“ herausarbeitet und die Auseinandersetzung mit nichtmarxistischen Richtungen noch nicht abgeschlossen ist. [9/87]
Zweitens die Tatsache, dass die marxistische Arbeiterbewegung „ihrem ureigensten Wesen nach international“ ist. Lenin nimmt in diesem Zusammenhang zur Dialektik von Internationalem und Nationalem, Allgemeinem und Besonderem in ihrer Bedeutung für die theoretische Arbeit der Partei Stellung und begründet ein Prinzip, das für jede revolutionäre Partei Gültigkeit hat. Es besagt:
a) Die in einem jungen Lande einsetzende Bewegung kann nur Erfolg haben, wenn sie die Erfahrungen anderer Länder verarbeitet.
b) Hierfür genügt es nicht, diese Erfahrungen einfach zu nennen. Auch das „einfache Abschreiben der jüngsten Resolutionen“ genügt nicht.
c) Man muss es verstehen, die Erfahrungen selbständig zu überprüfen, d. i. gemäß den konkret-historischen Besonderheiten anzuwenden.
Es ist somit unmöglich, die internationalen Erfahrungen richtig anzuwenden, ohne einen festen theoretischen Standpunkt zu haben. Diese Leitsätze sind fundamental auch für die gegenwärtige schöpferische marxistisch-leninistische Arbeit auf gesellschaftswissenschaftlichem, speziell auch revolutionstheoretischem Gebiet. Sie schließen den revisionistischen Rückfall in bürgerliche Ideologie aus, weil ihr oberstes Kriterium die Lebensverbundenheit und die strenge Orientierung auf das revolutionäre Klasseninteresse der Arbeiterklasse ist. Sie schließen damit auch dogmatischen Schematismus aus. Anerkennung der Allgemeingültigkeit grundlegender Erfahrungen, Anerkennung ihres Gesetzescharakters und schöpferische Anwendung dieser Gesetzeserkenntnis ist eine Grundform für die Führungstätigkeit der Partei. {…} [{…} Parteilichkeit und Idealismus bei O. F. zur KPdSU und Sowjetunion, 1975; R. S.].
Drittens die Tatsache, dass „die russische Sozialdemokratie nationale Aufgaben (hat), vor denen noch keine sozialistische Partei gestanden hat“: Die Befreiung des ganzen Volkes vom Joch der Selbstherrschaft. Mit der Größe und Kompliziertheit der historischen Aufgabe, die eine revolutionäre Partei zu lösen hat, wächst der Anspruch an ihre theoretische Arbeit.
Lenin zieht aus den drei genannten Momenten den Schluss, „dass die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird“ [10/88].
Die Kategorien Spontaneität und Bewusstheit bezeichnen einen gegebenen Zusammenhang qualitativ unterschiedlicher Wesensmerkmals bestimmter Entwicklungsstufen und bestimmter Formen des Klassenkampfes der Arbeiter. Grob kann gesagt werden: Spontaneität ist das Merkmal des ökonomischen Kampfes. Bewusstheit ist das Merkmal des politischen Kampfes. Ersterer läuft auf Verbesserungen der Lage der Arbeiter innerhalb der herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinaus. Letzterer zielt auf den revolutionären Sturz dieser Verhältnisse und den Aufbau des Sozialismus ab. Und er hat dieses Ziel als wissenschaftlich bewusstes, planmäßig verfolgtes. So ist Bewusstheit Begriff für Klassenkampf auf dem Boden der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse, einem Kampf, dessen Akteure um die Gesetze wissen, nach denen die Emanzipation vom Kapital, der Sturz des bürgerlichen Staates und die planmäßige Errichtung des Kommunismus geschieht.
Lenin arbeitet den skizzierten Qualitätsunterschied heraus, errichtet aber keine chinesische Mauer zwischen ihnen. Vielmehr liefert er eine dialektische Analyse: Ihr Widerspruch ist ebensosehr Zusammenhang, Wechselbeziehung, Entwicklungsprozess. Die spontane Bewegung kann bis dicht an den Umschlagspunkt in den politischen Kampf heranführen. Gleichwohl geschieht dieser Umschlag selbst nicht in der Weise spontan, dass er aus der ökonomischen Bewegung automatisch entspringen würde. Der Qualitätssprung der Arbeiterbewegung zur politisch-revolutionären Kampfaktion ist das Werk der Partei. Dies umfassend begründet zu haben gehört zu den spezifischen theoretischen Leistungen des Leninismus.
Spontaneität bedeutet nicht Bewusstlosigkeit der Bewegung schlechthin. Zum einen klärt Lenin, dass die in ihr vorherrschende Bewusstseinsform das trade-unionistische Bewusstsein ist. Zum andern bilden sich auf der spontanen Entwicklungsstufe des Kampfes Keimformen der Bewusstheit heraus. Das trade-unionistische Bewusstsein bestimmt Lenin als eine Denkweise und Haltung, welche die Arbeiterklasse in dem Sinne „ausschließlich aus eigner Kraft“ hervorbringt, dass sie sie auch ohne die politisch-ideologische Führungstätigkeit entwickeln kann. Sie ist gekennzeichnet durch die Überzeugung, dass die Arbeiter sich in Verbänden zusammenschließen, dass sie gegen die Unternehmer kämpfen müssen, dass sie der „Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen“ fähig sind. [11/89]
Die spontane Bewegung kulminiert insbesondere in Streikkämpfen. Innerhalb ihrer aber erlangt die Spontanität durchaus unterschiedlichen Charakter. Auch Spontaneität weist Entwicklungsprozesse auf. Lenin veranschaulicht dies anhand eines Vergleichs der Streiks im Russland der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einerseits und der neunziger Jahre [19. Jh.] andrerseits. Der unentwickelte Charakter der ersteren äußerte sich darin, dass sie noch mit Maschinenstürmerei verbunden waren. Aber selbst diese, wie Lenin sagt, „primitiven Rebellionen“ zeigten Ansätze für ein Erwachen des Klassenkampfes: „die Arbeiter verloren den uralten Glauben an die Unerschütterlichkeit der sie unterdrückenden Ordnung, sie begannen die Notwendigkeit einer kollektiven Abwehr … zu empfinden und brachen entschieden mit der sklavischen Unterwürfigkeit vor der Obrigkeit.“ [12/90] Gegenüber dieser Entwicklungsstufe, in der sich aber, wie Lenin betont, Verzweiflung und Rache als Kampf ausdrückt, zeigen die Streiks der neunziger Jahre mehr Symptome der Bewusstheit: „… es werden bestimmte Forderungen aufgestellt, es wird im voraus erwogen, welcher Zeitpunkt der beste ist, es werden bestimmte Fälle und Beispiele aus anderen Orten erörtert usw.“ [13/91] Lenin nennt sie auch „Systematische Streiks“. Diese Keimform der Bewusstheit ist bereits ein Merkmal von aufkeimendem Klassenkampf.
Alles in allem aber bleibt es beim Tradeunionismus. Die Stufe des ökonomischen Kampfes wird nicht überschritten. –
Zum politischen Kampf gehört „sozialdemokratisches Bewusstsein“, welcher Ausdruck bei Lenin als Synonym für wissenschaftlich revolutionäres Bewusstsein steht. –
Sein Hauptmerkmal bestimmt Lenin als Erkenntnis des unversöhnlichen Gegensatzes der Arbeiterklasse zum gesamten politischen und sozialen System des Kapitalismus. [14/92] –
Solange letzterer nicht ausgebildet ist, werden die Keimformen der Bewusstheit immer von der Spontanität unterdrückt. Opportunismus ist gerade die zum Prinzip und zur systematischen Politik erhobene Unterdrückung der Bewusstheit. Es ist eine Politik, die die Bewegung auf der Stufe der ökonomischen Kämpfe einfrieren möchte. Lenin verweist auf einen Vorgang, der typische Bedeutung auch für den gegenwärtig praktizierten Opportunismus in der Arbeiterbewegung hat.
Zur vollständigen Unterdrückung der Bewusstheit durch die Spontaneität kommt es, wenn die Arbeiter dem Argument erliegen, eine Kopeke Zulage sei für sie nützlicher als aller Sozialismus und alle Politik. Es ist dies der Ausdruck jener zum reaktionären weltanschaulichen Prinzip erhobenen Phrase, dass der Kampf im Bewusstsein geführt werden müsse, für sich selbst und seine Kinder, nicht aber für künftige Generationen zu kämpfen. –
Verrat der Klasse und ihrer sozialistischen Zukunft um des augenblicklichen Vorteils willen ist die Konsequenz dieses Prinzips. –
Lenin charakterisiert die genannte Phrase als eine beliebte Waffe der westeuropäischen Bourgeoisie, als einen Ausdruck ihres Hasses gegen den Sozialismus. Sie gehören [und gehörten] auch zu den bevorzugten Instrumenten ideologischer Diversion der imperialistischen Bourgeoisie [- in ihrem erfolgreichen Kampf; R. S.] gegen den realen Sozialismus und die kommunistische Weltbewegung.
Das sozialistisch revolutionäre Bewusstsein kann die Arbeiterbewegung nicht aus der Spontaneität erzeugen. Und zwar deshalb nicht, weil die Begründung der Notwendigkeit des Sozialismus und der sozialistischen Revolution ein Ergebnis der Wissenschaftsentwicklung ist. Die Arbeiterklasse ist aber von der Wissenschaftsentwicklung zunächst ausgeschlossen. –
Erst mit der organisierten Arbeiterbewegung beginnt die Aneignung der Wissenschaft durch die Arbeiter. Lenin betont, dass die „Lehre des Sozialismus (zum Unterschied vom spontanen Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Proletarier und ihrer Feindschaft gegen die Unternehmer; O. F.) … aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen (ist), die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden.“ [15/93] Folglich muss das sozialistisch-revolutionäre Bewusstsein in die Arbeiterklasse durch die Partei hineingetragen werden.«
Anmerkungen
1/79 W. I. Lenin, Eine Auseinandersetzung mit Verteidigern des Ökonomismus, in: Werke, Bd. 5, Berlin 1959, S. 323.
2/80 Vgl. W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, S. 414.
3/81 W. I. Lenin, Eine Auseinandersetzung mit Verteidigern des Ökonomismus, S. 23.
4/82 Vgl. W. I. Lenin, Was tun?, in: Werke, Bd. 5, S. 358.
5/83 Ebenda, S. 359.
6/84 Vgl. ebenda, S. 362.
7/85 Ebenda, S. 379.
8/86 Vgl. ebenda, S. 378ff.
9/87 Vgl. ebenda, S. 380.
10/88 Ebenda.
11/89 Ebenda, S. 386.
12/90 Ebenda, S. 385.
13/91 Ebenda.
14/92 Vgl. ebenda.
15/93 Ebenda, S. 386.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik ngegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 7.9. Materialistisch-dialektische Bestimmung des Verhältnisses von Spontaneität und Bewusstheit, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.
16.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)