Philosophie und Politik
Materialistische Ansätze in Marx’ Arbeiten
für die „Rheinische Zeitung“
von Otto Finger
»Erste materialistische Ansätze für dieses „Weltlich-Werden“ der Philosophie, das seinen höchsten Ausdruck in der Verwirklichung der zunächst philosophisch welthistorischen Mission der Arbeiterklasse findet, gewinnt Marx, indem er von der Sphäre der theoretischen Auseinandersetzung zur unmittelbar praktisch-politischen Arbeit gelangt. –
Die Konfrontation der Grundsätze der junghegelianischen Philosophie des Selbstbewusstseins und der Hegelschen Rechtsphilosophie mit der praktischen Politik, dem praktizierten Recht und ökonomischen Lebensfragen der Gesellschaft führt zur Formulierung erster materialistischer Grundsätze. Dieser Prozess setzt ein mit Marx’ Redakteurstätigkeit für die „Rheinische Zeitung“ (1842/43). –
Wie Marx später betont, kam er hier „zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen.“ [1/11] Es handelte sich insbesondere um die materiellen Interessen der Moselbauern, der armen, politisch und sozial benachteiligten Masse der Werktätigen, für die er Partei zu ergreifen beginnt. [2/12]
Die für die Herausbildung der historisch-materialistischen Revolutionstheorie wesentlichen Fragen, denen sich Marx jetzt gestellt sieht, beziehen sich auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Staat und Privateigentum, ökonomischer Lage und politischen Institutionen.
Das Thema des Verhältnisses von Philosophie und Realität stellt sich Marx jetzt sowohl ökonomisch wie politisch konkreter als in der Doktordissertation. Erste Ansätze zur materialistischen Klärung dieses Verhältnisses finden sich in einem Aufsatz von ihm aus dem Jahre 1842:
• Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen stehe, weil es nicht im Magen liege; „aber freilich die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füßen sich auf den Boden stellt …“ [3/13] Dieses Bild vom Auf-dem-Kopf-stehen der Philosophie verwendet Karl Marx später im „Kapital“, um die Umstülpung der idealistischen Dialektik zu versinnbildlichen.
• Es müsse die Zeit kommen, wo die Philosophie nicht nur „innerlich durch ihren Gehalt, sondern auch äußerlich durch ihre Erscheinung mit der wirklichen Welt ihrer Zeit in Berührung und Wechselwirkung tritt.“ [4/14] Dann aber würde sie die Philosophie der gegenwärtigen Welt sein.
• Die Philosophie habe folglich ein legitimes Recht, über „das Reich dieser Welt“, den Staat sich zu bekümmern, und die Frage laute dann, ob mit oder ohne Konsequenz, rational „oder halb rational“ über den Staat philosophiert werde. [5/15]
• Um über das Recht der Staatsverfassungen entscheiden zu können, müsse diese Entscheidung „nicht aus der Natur der christlichen, sondern aus der Natur der menschlichen Gesellschaft“ getroffen werden. [6/16] (Das Christentum entscheide nicht über die Güte von Verfassungen; es lehre vielmehr: Seid untertan der Obrigkeit, denn ihm gelte jede Obrigkeit von göttlicher Abkunft).
Einem entscheidenden Problem der Revolutionstheorie nähert sich Marx in den „Debatten über das Holzdiebstahlgesetz“, wenn er nach dem Verhältnis von Privateigentum und Staat fragt. Wenn der Staat sich auch nur an einem Punkt herablasse, „in der Weise des Privateigentums“ tätig zu sein, so folge unmittelbar, dass er sich in der Form seiner Mittel den Schranken des Privateigentums akkommodieren müsse: „Wenn es sich hier aber klar herausstellt, dass das Privatinteresse den Staat zu den Mitteln des Privatinteresses, wie sollte nicht folgen, dass eine Vertretung der Privatinteressen, der Stände, den Staat zu den Gedanken des Privatinteresses degradieren will und muss?“ [7/17] –
Was hier Marx noch als eine Entartung des Wesens des vorsozialistischen Staates erscheint, beginnen Marx und Engels wenig später als seine wesentliche Funktion zu erkennen: Sachwalter des Privateigentums zu sein. Und die These von der Notwendigkeit, die bürgerliche Staatsmaschinerie zu zerbrechen, reicht zurück bis in die frühen Ansätze zur Erkenntnis des inneren Zusammenhangs zwischen der Herrschaft des privatkapitalistischen Eigentums und dem bürgerlichen Staat.
In die Nähe einer Grundposition des historischen Materialismus führt die Anschauung von der Objektivität sozialer Verhältnisse und ihrer das Handeln determinierenden Rolle, die Kritik jenes idealistischen Voluntarismus, der den „guten oder bösen“ Willen einzelner Personen zur historisch wirkenden Substanz macht. In dem Aufsatz „Rechtfertigung des ††-Korrespondenten von der Mosel“ heißt es hierzu:
„Bei der Untersuchung staatlicher Zustände ist man allzu leicht versucht, die staatliche Natur der Verhältnisse zu übersehen und alles aus dem Willen der handelnden Personen zu erklären. Es gibt aber Verhältnisse, welche sowohl die Handlungen der Privatleute als der einzelnen Personen bestimmen und so unabhängig von ihnen sind als die Methode des Atemholens. Stellt man sich von vornherein auf diesen sachlichen Standpunkt, so wird man den guten oder bösen Willen weder auf der einen noch auf der andern Seite ausnahmsweise voraussetzen, sondern Verhältnisse wirken sehen, wo auf den ersten Blick nur Personen zu wirken scheinen. Sobald nachgewiesen ist, dass eine Sache durch die Verhältnisse notwendig gemacht wird, wird es nicht mehr schwierig sein, auszumitteln, unter welchen äußeren Umständen sie nun wirklich ins Leben treten mußte und unter welchen sie nicht ins Leben treten konnte, obgleich ihr Bedürfnis schon vorhanden war. Man wird dies ungefähr mit derselben Sicherheit bestimmen können, mit welcher der Chemiker bestimmt, unter welchen äußern Umständen verwandte Körperstoffe eine Verbindung eingehen müssen.“ [8/18]
Es hieße das Wesen des historischen Materialismus verkennen, wollte man die eben angeführten Auffassungen bereits für Aussagen auf dem Niveau wissenschaftlicher Sozialtheorie nehmen. Anerkennung der Unabhängigkeit sozialer Verhältnisse vom Bewusstsein und vom Willen einzelner Personen ist eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung ihrer wissenschaftlichen Analyse. Das gleiche gilt für das Verhältnis von Privateigentum und Staat: die Erkenntnis der Abhängigkeit des letzteren vom ersteren ist notwendig, aber nicht hinreichend, um die Entstehungs- und Wandlungsprozesse beider zu begreifen.
Es handelt sich also um erste Ansätze, freilich eben auch, und das ist in unserem Zusammenhang wichtig, um Keime des Materialismus. Es beginnt in dem Maße von Karl Marx sozialtheoretisch durchgeführt zu werden, wie sein politischer Standpunkt sich radikalisiert, von revolutionär demokratischer Kritik feudal-absolutistischer Zustände zum proletarisch-kommunistischen Infragestellen der ganzen alten Ausbeuterordnung hintendiert. Der politischen Radikalität entspricht jene philosophische Gründlichkeit, die über alle vorherige Philosophie hinaus an die tiefsten materiell-gesellschaftlichen Wurzeln der Ausbeutung und Unterdrückung der werktätigen Massen vordringt und so fähig wird, deren revolutionäre Beseitigung als Verwirklichung eines geschichtlichen Entwicklungsgesetzes zu begründen.«
Anmerkungen
1/11 Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1961, S. 7.
2/12 Vgl. Karl Marx, Rechtfertigung des ††-Korrespondenten von der Mosel, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 172-200.
3/13 Karl Marx, Der leitende Artikel in Nr. 179 der „Kölnischen Zeitung“, in: K. Marx und F. Engels, Werke, Bd. 1, S. 97.
4/14 Ebenda.
5/15 Ebenda, S. 100.
6/16 Ebenda, S. 102.
7/17 Karl Marx, Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 1, S. 126.
8/18 Karl Marx, Rechtfertigung des ††-Korrespondenten von der Mosel, S. 177.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 3.2. Philosophie und Politik – Materialistische Ansätze in Marx’ Arbeiten für die „Rheinische Zeitung“, in: 3. Kapitel: Philosophischer Materialismus und Herausbildung der wissenschaftlichen Revolutionstheorie der Arbeiterklasse.
19.03.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)