Philosophie der Revolution
Soziale Tendenz idealistischen Denkens
von Otto Finger
»Karl Marx und Friedrich Engels haben die wissenschaftliche Theorie von der sozialistischen Revolution sowohl im Kampf gegen den „rohen“ und „gedankenlosen“ Kommunismus der kleinbürgerlichen Utopien als auch gegen die Illusion der bürgerlich-liberalen Junghegelianer durchgesetzt, man könne Verhältnisse dadurch verändern, dass man bloß die Ideen dieser Verhältnisse verändert. Sie mussten also die Illusion beseitigen, dass das „Kritische Selbstbewusstsein“, die „Kritische Kritik“ die eigentliche umwälzende Tätigkeit, die wichtigste Tat gegen die miserablen Zustände sei. Letzteres ist ein entscheidender Gegenstand der Analysen und Kritiken der „Heiligen Familie“. Ihre Untertitel „Kritik der kritischen Kritik“ und „Gegen Bruno Bauer und Konsorten“ macht sie als eine antiidealistische Streitschrift kenntlich.
Während in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ neben der Auseinandersetzung mit den nationalökonomischen Theorien der Bourgeoisie und den vorwissenschaftlichen Kommunismusvorstellungen der Angriff gegen Hegels objektiven Idealismus überwiegt, richtet sich die Attacke nunmehr gegen dessen subjektiv-idealistischen Abklatsch am Vorabend der revolutionären Bewegungen von 1848. Bei aller Differenz zwischen dem objektiven Idealisten Hegel und seinen subjektiv-idealistischen Epigonen – den Unterschieden des politischen Standorts, der historischen Situation, des Verhältnisses auch zu den Institutionen des Feudalabsolutismus und seiner religiös-idealistischen Ideologie – stimmen sie doch als Idealisten in einem wesentlichen weltanschaulichen Effekt zusammen: die geschichtsbildende Kraft der materiellen Tätigkeit wird verfehlt. –
Die Rolle der Volksmassen und der arbeitenden Menschen im Geschichtsprozess, sofern sie die Träger der materiellen Produktionstätigkeit sind, bleibt unerkannt. Weil aber diese entscheidenden Momente aller geschichtlichen Prozesse im Dunkeln bleiben oder nur mystifiziert, eben idealistisch – als Tat der Idee etc. – erfasst werden, deshalb tendiert Idealismus der übergreifenden Tendenz nach eher zur Reaktion als zum Progress, eher zur Apologie reaktionärer Verhältnisse als zur Veränderung, eher zur Versöhnung mit miserablen gesellschaftlichen Zuständen als zur revolutionären Umwälzung.
Die rigorose Kritik von Karl Marx und Friedrich Engels am Idealismus hat gerade hierin ihr politisches Zentrum: sie vollziehen die theoretische Zerschlagung des Hegelschen und nachhegelschen Idealismus – Feuerbachs Werk der Religionskritik vollendend – indem sie nicht bloß seinen theologischen Kern und seine religiösen Wurzeln aufdecken, sondern ihn als politische Ideologie einer Bourgeoisie ohne revolutionäre Kraft nachweisen, mit allen Elementen des Elitären, Volksverachtenden, Restaurativen, auch direkt Reaktionären. –
Um eine klassische Formulierung dieses Sachverhalts – der in der „Heiligen Familie“ untersucht wird – vorwegzunehmen, sei die folgende Passage aus der „Deutschen Ideologie“ zitiert:
„Die Junghegelianer stimmen mit den Althegelianern überein in dem Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe, des Allgemeinen in der bestehenden Welt. Nur bekämpfen die Einen (die „kritischen Kritiker“, die Gebrüder Bauer und die anderen Linkshegelianer; O. F.) die Herrschaft als Usurpation, welche die Andern als legitim feiern. –
Da bei diesen Junghegelianern die Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, überhaupt die Produkte des von ihnen verselbständigten Bewusstseins für die eigentlichen Fesseln der Menschen gelten, gerade wie sie bei den Althegelianern für die wahren Bande der menschlichen Gesellschaft erklärt werden, so versteht es sich, dass die Junghegelianer auch nur gegen diese Illusionen des Bewusstseins zu kämpfen haben. Da nach ihrer Phantasie die Verhältnisse der Menschen, ihr ganzes Tun und Treiben, ihre Fesseln und Schranken Produkte ihres Bewusstseins sind, so stellen die Junghegelianer konsequenterweise das moralische Postulat an sie, ihr gegenwärtiges Bewusstsein mit dem menschlichen, kritischen oder egoistischen Bewusstsein zu vertauschen und dadurch ihre Schranken zu beseitigen. Diese Forderung, das Bewusstsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d. h. es vermittelst einer andern Interpretation anzuerkennen. Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich, ,welterschütternden’ Phrasen die größten Konservativen.“ [1]
In diesen Zusammenhängen, in diesen von Karl Marx und Friedrich Engels aufgedeckten sozialen Funktionen des Idealismus, liegt ein Schlüssel zum Verständnis der tiefsten politischen und Klassenwurzeln für den unüberbrückbaren Gegensatz von Materialismus und Idealismus. Auch zwischen dem dialektischen Idealismus Hegelscher Prägung und dem Marxschen Materialismus. –
Es liegt im obigen ferner auch ein Schlüssel, um begreifen zu können, nicht nur warum das herrschende, das von der imperialistischen Bourgeoisie und ihren Ideologen erzeugte, durch die imperialistischen Massenmedien verbreitete philosophische Bewusstsein in der spätbürgerlichen Welt idealistisch verkehrtes Bewusstsein ist, sondern auch, warum reaktionäre Herrschaftssysteme des Imperialismus so nachgiebig, freundlich, auch fördernd reagieren auf die „welterschütternden“ Phrasen der sogenannten kritischen Theorie von heute. Verstehbar wird sowohl deren Rückgriff auf die alten Muster solcher „kritischen“ Philosophen, die schon in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts [19. Jh.] vergaßen, „… dass sie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen“ [2], als auch der mit allem heutigen idealistischen Kritizismus verbundene Effekt des Konservatismus.
Wenn Karl Marx und Friedrich Engels von dem „menschlichen“, dem „kritischen“ oder dem „egoistischen“ Bewusstsein sprechen, das es nach junghegelianischer Auffassung an die Stelle des herrschenden Bewusstseins zu setzen gelte, so sind in diesen Formeln jene Hauptrichtungen der nachhegelianischen Philosophie angegeben, bei deren Überwindung die philosophischen Grundlagen der Revolutionstheorie entwickelt wurden. –
Das „egoistische Bewusstsein“ bezeichnet den Standpunkt Max Stirners, eines kleinbürgerlichen Stammvaters anarchistisch-individualistischen Revoluzzertums, das bis in den Neoanarchismus hineinreicht. „Menschliches Bewusstsein“ bezeichnet den unhistorisch-abstrakten Menschbegriff Feuerbachs, mit dem er hoffte, die theologischen Schranken aller idealistischen Philosophie und der religiösen Selbstentfremdung des Menschen zu überwinden. Und „kritisches Bewusstsein“ bezeichnet schließlich den Scheinkritizismus der bürgerlich-liberalen Flügels innerhalb der junghegelianischen Bewegung.
Dass die Kritik dieser letztgenannten Richtung, speziell der geschichtsphilosophischen und sozialpolitischen Auffassungen der Gebrüder Bauer, wesentlich auf die Überwindung all jener theoretischen Schranken abzielt, die dem Vorstoß zur wissenschaftlichen Theorie und politischen Praxis der Revolution im Wege stehen, wird in der „Heiligen Familie“ wiederholt ausgesprochen. Und so ist es eine antiidealistische Schrift, weil auf die revolutionäre Theorie und die Praxis der sozialistischen Revolution abzielend.«
Anmerkungen
1 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 19f.
2 Ebenda, S. 20.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 4.1. Soziale Tendenz idealistischen Denkens, in: 4. Kapitel: Materialismus und revolutionäres Klassenbewusstsein contra subjektiven Idealismus (zur aktuellen weltanschaulichen Bedeutung der „Heiligen Familie“).
17.03.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)