Philosophie der Revolution

Die Marxsche Doktordissertation

und das Weltlichwerden der Philosophie

von Otto Finger

»Marx’ Übergang vom revolutionären Demokratismus zum Kommunismus fällt zusammen mit dem Übergang vom linkshegelianischen Idealismus zum Materialismus. Die Gewinnung erster grundlegender materialistischer Positionen ist darum von Anbeginn ein gleichermaßen theoretischer und politischer Prozess im Marxschen Denken.

In Lenins biographischer Skizze „Karl Marx“ – neben „Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx“ und „Drei Quellen und Bestandteile des Marxismus“ seine wichtigste marxismusgeschichtliche Grundsatzarbeit – finden sich zwei für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen philosophischem Materialismus und Formierung der kritisch-revolutionären Sozialtheorie im frühmarxschen Denken wichtige Hinweise. Erstens betont Lenin, dass Marx von dem Zeitpunkt an, da seine „Anschauungen (sich) geformt hatten“ [1], das heißt ihr spezifisches, über alles vorhergegangene Denken hinausgehendes, ihr gänzlich neues theoretisches und politisches Profil gewannen, dass Marx also von da an Materialist war. Lenin setzt diesen Zeitpunkt mit den Jahren 1844 und 1845 an. Zweitens hebt Lenin hervor, dass sich aber „schon Anzeichen für Marx’ Übergang vom Idealismus zum Materialismus und vom revolutionären Demokratismus zum Kommunismus“ in seinen Arbeiten für die „Rheinische Zeitung“, also 1842 finden. [2]

Es sind frühe Keime einer Grundlinie des ganzen marxistisch-leninistischen Denkens, seiner Vereinigung nämlich von Philosophie und Politik, genauer von wissenschaftlicher materialistischer Weltanschauung und praktisch-revolutionärer Aktion der Arbeiterklasse. Das Fortschreiten in der Theorie erweist sich schon in dieser Phase der Genesis der neuen Philosophie als unlösbar verflochten in das politische Fortschreiten, in die Radikalisierung der bürgerlich-demokratischen Kritik an den feudal-absolutistischen Zuständen bis an den Punkt ihres Umschlags in den revolutionären Klassenstandpunkt des Proletariats. –

Dieser Umschlagspunkt, dieser epochemachende Schritt über alles vorausgegangene philosophische und politische Denken hinaus – epochemachend, weil er eine neue weltgeschichtliche Periode einleitet, die Periode des wissenschaftlich bewussten Befreiungskampfes der Arbeiterklasse unter der Führung ihrer Partei [3] – findet seinen ersten theoretischen Niederschlag in Marx’ „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ und seinen umfassend durchgebildeten Ausdruck im „Manifest der Kommunistischen Partei“. –

Wir werden daher als erste Phase des Aufkeimens der neuen Weltanschauung und ihrer Revolutionstheorie nachfolgend den Weg von der Marxschen Doktordissertation (1841), über seine Arbeiten in der „Rheinischen Zeitung“ bis zur „Einleitung“, freilich nur in ganz groben Strichen, markieren und als zweite Phase der Herausbildung der revolutionären Theorie der Arbeiterklasse die Entwicklung von den „Manuskripten“ bis an die Schwelle des „Manifests“ – das ist die „Deutsche Ideologie“ und das „Elend der Philosophie“ – verfolgen. –

Dass sich Karl Marx und Friedrich Engels in dieser Periode so entschieden und gründlich den theoretischen Fragen der Revolution, speziell der revolutionären Aktion der Arbeiterklasse zuwandten, hat in erster Linie diese beiden objektiven gesellschaftlichen Gründe:

1. Der Marxismus entstand in einer vorrevolutionären Situation. Das „Manifest der Kommunistischen Partei“, krönendes politisch-theoretisches Fazit der Herausbildungsperiode der kommunistischen Weltanschauung, erschien am Vorabend der bürgerlich-demokratischen revolutionären Bewegungen von 1848.

2. In der Entstehungsgeschichte des Marxismus widerspiegelt sich in der Gestalt einer revolutionären wissenschaftlichen Theorie der beginnende revolutionäre Klassenkampf der Arbeiterklasse. Sie beginnt als aktive geschichtliche Kraft auf den Schauplatz der politischen Kämpfe zu treten.

Dass Philosophie und Politik in einer Wechselbeziehung stehen, wusste schon Hegel [4] und bedürfte im Zusammenhang mit der frühmarxschen Entwicklung keiner ausdrücklichen Erwähnung. Der Nachdruck unserer Fragestellung liegt konkreter auf dem Verhältnis von materialistischer Philosophie und revolutionärer sozialistischer Politik.

Von Marx’ philosophischen Anschauungen in der Doktordissertation aus dem Jahre 1841 sagt Lenin, dass er hier noch auf idealistisch-hegelianischem Standpunkt steht. Allerdings ist Marx’ Arbeit „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie“ zugleich „ein Stück Entwicklungsgeschichte zum dialektischen Materialismus.“ [5] –

Nach Marx’ eigenem Zeugnis wurzelte seine Beschäftigung mit der antiken Philosophie, speziell dem Materialismus und Atheismus Epikurs mehr in einem politischen als philosophischen Interesse. [6] –

Die Bedeutung eines frühen Keimes für die wenige Jahre später materialistisch-dialektisch begriffene Beziehung zwischengesellschaftlicher Realität und philosophischer Theorie kommt der folgenden Grundauffassung der Dissertation zu: r Philosophie und Welt stehen dergestalt in einem dialektischen Verhältnis zueinander, dass man Denken und Sein, Geist und konkrete Wirklichkeit als wechselwirkende Prozesse erfassen muss. [7] –

Seinen deutlichsten Ausdruck findet dieser Standpunkt, der über Hegel und den Junghegelianismus hinauszuweisen beginnt, in der folgenden Passage aus den Anmerkungen zur Dissertation:

Es ist ein psychologisches Gesetz, dass der in sich frei gewordene theoretische Geist zur praktischen Energie wird, als Wille aus dem Schattenreich des Amenthes heraustretend, sich gegen die weltliche, ohne ihn vorhandene Wirklichkeit kehrt. (Wichtig aber ist es in philosophischer Hinsicht, diese Seiten mehr zu spezifizieren, weil aus der bestimmten Weise dieses Umschlagens rückgeschlossen werden kann auf die immanente Bestimmtheit und den weltgeschichtlichen Charakter einer Philosophie …) Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee misst. Allein diese unnittelbare Realisierung der Philosophie ist ihrem Wesen nach mit Widersprüchen behaftet, und dieses ihr Wesen gestaltet sich in der Erscheinung und prägt ihr sein Siegel auf. –

Indem die Philosophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt hervorkehrt: ist das System zu einer abstrakten Totalität herabgesetzt, d. h. es ist zu einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht … Begeistert mit dem Trieb, sich zu verwirklichen, tritt es in Spannung gegen anderes. Die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet. So ergibt sich die Konsequenz, dass das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie, dass ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, dass, was sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist, dass gerade im Kampfe sie selbst in die Schäden verfällt, die sie am Gegenteil als Schäden bekämpft, und dass sie diese Schäden erst aufhebt, indem sie in dieselben verfällt. (Karl Marx) [8] –

Worin liegen die philosophischen Keime, deren Entfaltung auf die Marxsche Neubestimmung des Wesens kritisch theoretischer Arbeit überhaupt hinführt, deren vollständiger Ausbau zu einem in sich geschlossenen Konzept der revolutionären gesellschaftlichen Aufgabe der materialistischen Philosophie hintendiert? Inwiefern formuliert hier Marx auf dem Boden junghegelianischer Prämissen [9] Fragen, die er im Fortgang seiner philosophischen und politischen Entwicklung stets erneut aufgegriffen hat, um sie einer materialistischen und proletarisch-parteilichen Lösung zuzuführen?

Erstens wird die Frage gestellt, worin der Widerspruch zwischen philosophischem Bewusstsein und Realität wurzelt. Diese Frage wird sich einerseits zuspitzen zu dem Problem, in welcher Weise falsches idealistisches Bewusstsein durch wirkliche gesellschaftliche Widersprüche ebenso erzeugt wie durch deren revolutionäre Lösung vernichtet wird. In materialistische Richtung deutet hierbei die Aussage, dass der theoretische Geist sich gegen eine „weltliche“ Wirklichkeit kehrt, die ohne ihn vorhanden ist.

Zweitens formuliert Karl Marx erstmalig einen Programmpunkt seiner wissenschaftlichen Kritik bürgerlicher Ideologie, indem er fordert, diese Seiten – Realität und Theorie – mehr zu spezifizieren, um von daher auf die geschichtliche Wirksamkeit des Bewusstseins schließen zu können.

Drittens stellt er die Aufgabe, Philosophie dergestalt zu entwickeln, dass sie Maßstäbe angibt, um das Kritikwürdige gesellschaftlicher Zustände zu erfassen. Zwei Jahre später verknüpft Marx den Standpunkt philosophischer Kritik mit dem Standpunkt von der Notwendigkeit praktisch-gegenständlicher „Kritik“, d. i. materieller Revolution. Jene Seite von Philosophie, die ihre „Praxis“ als theoretische Arbeit bestimmt, wird dabei freilich nicht eliminiert. Von der spezifischen Praxis der Philosophie als theoretischer zu sprechen ist dabei nicht das schlechthin Idealistische dieser Auffassung. Dialektischer Materialismus löscht diese Seite der Philosophie nicht aus, sondern bezieht sie auf die weltgeschichtlich-entwickeltste Form gesellschaftlich umwälzender Tätigkeit, die revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse. [10]

Viertens wirft Marx die Frage auf, inwiefern alle bisherige Philosophie, vor allem aber die Hegelsche und junghegelianische, in ihrem „innersten Wesen“ mit Widersprüchen behaftet ist, sofern sie auf Realisierung tendiert. Marx wird wenig später zeigen, dass ihre idealistischen und theologischen Schranken jede Chance auf Realisierung ihrer rationellen Keime unmöglich machen, diese folglich aus der Mystifikation herausgesprengt werden müssen.

Fünftens fragt Marx, und dies kündigt ein Leitmotiv der ganzen theoretischen Arbeit von Marx an, wie Philosophie so verwirklicht werden kann, dass die Welt gemäß philosophischer Erkenntnis umgewälzt werden könne. Als entscheidende Bedingung formuliert Marx 1843, indem er auf den Klassenstandpunkt des Proletariats übergeht, dass die Philosophie theoretisches Instrument revolutionärer Praxis wird.«

Anmerkungen

1 W. I. Lenin, Karl Marx, in: Werke, Bd. 21, Berlin 1960, S. 39.

2 Ebenda, S. 69.

3 »In „Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx“ gibt Lenin die folgende, auch für das Verständnis der Hauptetappen der Entwicklung der Marxschen Theorie in ihrem Verhältnis zu den sozialen Revolutionen wesentliche Periodisierung der weltgeschichtlichen Entwicklung: „Die Weltgeschichte lässt sich von dieser Zeit an (nämlich vom Erscheinen des „Manifestes“ an; O. F.) deutlich in drei Hauptperioden einteilen: 1. von der Revolution 1848 bis zur Pariser Kommune (1871); 2. von der Pariser Kommune bis zur russischen Revolution (1905); 3. von der russischen Revolution an.“ (W. I. Lenin, Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx, in: Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 576). –

Lenins Periodisierung der weltgeschichtlichen Entwicklung geht als von jenen revolutionären Ereignissen als den Angelpunkten aus, in denen die Arbeiterklasse bereits als selbständige historische Kraft auf den Plan tritt. Es ist eine proletarisch-parteiliche Wertung geschichtlicher Zäsuren. Der Aufstieg der Arbeiterklasse zur revolutionär handelnden Kraft aber ist nicht allein im „Manifest“ theoretisch antizipiert, sondern durch diese wissenschaftliche Programmerklärung revolutionärer Aktion auch entscheidend praktisch formuliert. Sofern aber in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ bei Marx jene theoretische und politische Linie einsetzt, die zum „Manifest“ als ihren ersten Kulminationspunkt hinführt, verdient dieser Text im angedeuteten Sinne als epochemachender Umschlagspunkt gewertet zu werden.«

4 Vgl. Hegels Einleitungen in die Geschichte der Philosophie, »wo es heißt: „In solchen Zeiten, wo die politische Existenz sich umkehrt, hat die Philosophie ihre Stelle, und dann geschieht es nicht nur, dass überhaupt gedacht wird, sondern dann geht der Gedanke voran, und bildet die Wirklichkeit um.“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Erster Band, System und Geschichte der Philosophie, Leipzig o. J., S. 360). In welchem Sinne und auf welcher sozialen Grundlage der Gedanke der sozialistischen Revolution der Wirklichkeit vorangeht und in ihrem Umbildungsprozess eingreift, wird darzustellen sein.«

5 G. Mende in „Die philosophische Bedeutung der Doktordissertation von Karl Marx“ (Einleitung zur Ausgabe der Doktordissertation in der Reihe „Jenaer Reden und Schriften“ der Friedrich-Schiller-Universität, Jena 1964, S. 9).

6 Vgl. Marx an Ferdinand Lassalle. 21. Dezember 1857, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 29, Berlin 1963, S. 547. r

7 Vgl. hierzu A. Cornu, Karl Marx und Friedrich Engels, Bd. 1, Berlin 1954, S. 170, 171.

8 K. Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (Doktordissertation), in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 327 f.

9 »Diese Prämissen sind am zitierten Ort in der Feststellung eingeschlossen, dass die subjektive Seite – zum Unterschied von der charakterisierten objektiven Seite des Realisierens von Philosophie – das Verhältnis des philosophischen Systems zu seinen geistigen Trägern, das ist dem einzelnen Selbstbewusstsein, wäre, in denen ihr Fortschritt erscheint. Ferner in der Feststellung, dass dasjenige, was der Philosophie entgegentrete und was sie bekämpfe, sie selbst sei, „nur mit umgekehrten Faktoren“ (Ebenda). Marx steht also im Banne der junghegelianischen Konzeption des kritischen Selbstbewusstseins, das in der Kritik seiner eigenen entfremdeten Gestalten in der Realität, diese wandelt.«

10 »In dem hier in Rede stehenden Satz sahen wir daher zum Unterschied von T. I. Oiserman nicht das charakteristisch Idealistische des Marxschen Herangehens an die Theorie-Praxisdialektik in der Doktordissertation, wobei der philosophische Gehalt im übrigen in Oisermans Arbeit „Die Entstehung der Marxistischen Philosophie“ (Berlin 1965) sehr instruktiv dargestellt ist (Vgl. ebenda, S. 54).

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 3.1. Die Marxsche Doktordissertation und das Weltlichwerden der Philosophie, in: 3. Kapitel: Philosophischer Materialismus und Herausbildung der wissenschaftlichen Revolutionstheorie der Arbeiterklasse.

16.03.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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