Moralische Norm im Kapitalismus: Ein Kapitalist schlägt viele andere tot
Wissenschaftliches und Werturteil
Von Otto Finger
In dieser Verurteilung der vorsozialistischen Gesellschaft als unsittlich steckt mehr als bloß ein Element der sogenannten „moralisierenden“ Kritik des Kapitalismus. Zwischen Marxschem und Engelsschem Moralurteil über die Zustände dieser Produktionsweise einerseits und den Moralappellen der utopischen Sozialisten zu ihrer Verbesserung andererseits besteht ein gravierender Unterschied. Um ihn klar zu machen, ist die folgende Frage zu stellen. Wird der Kapitalismus für schlecht befunden, weil er einem Sittengesetz widerspricht (z. B. dem Gebot christlicher Nächstenliebe oder dem Kantschen Imperativ, wonach jeder so handeln solle, dass die Maxime seines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne), wird also die Kritik aus der Ethik abgeleitet oder wird umgekehrt von der materialistisch-dialektischen Analyse und klassenmäßigen Kritik zum moralischen Urteil fortgeschritten? Engels – und mit ihm schon in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ Marx und ebenso Lenin – beschreitet offensichtlich den letzteren Weg. Es ist zunächst der materialistisch-dialektische Weg von der Sache, in diesem Falle der kapitalistischen Produktionsweise und ihrem objektiven Widerspruch zu ihrem Prinzip, ihrem begrifflichen Ausdruck. Prinzip als bewusster Ausdruck eines realen Vorgangs, als Ausdruck seines Wesens, seines Gesetzes, vereinigt beim jungen Engels und auch fortan auf jeder Entwicklungsstufe der Revolutionstheorie diese beiden Seiten: theoretischen Begriff und ethisches Urteil. Und es muss beide Seiten vereinigen, sofern es sich um eine gleichermaßen wissenschaftliche und parteiliche Untersuchung der Sache handelt. Sie ist durchdrungen von der Parteinahme für den einen, den ausgebeuteten, vom Eigentum ausgeschlossenen, unterdrückten und verelendeten Pol des Gegensatzes Kapital – Arbeit, eben das Proletariat.
Diese Untersuchung – auch schon in Engels’ „Umrissen“ – leistet mehr als bloß ein Beschreiben dessen, was ist, so sehr sie von dem, was ist, als Konkurrenz, als Rohheit, als Verelendung ist, ausgeht. Sie verbindet das Urteil über das Sein, das Vorliegende, das Gegebene, den praktischen kapitalistischen Zustand mit dem Urteil über das Sollen, über das, was künftig sein soll, sein soll vom Standpunkt der Arbeiterklasse. Und sein muss, und sein wird aufgrund der objektiven Widersprüche und ihrer Entwicklungstendenz im gegebenen Produktionssystem selbst.
Etwas klassenmäßig untersuchen und begreifen heißt so stets, mit der Analyse das moralische Werturteil verbinden, Normen für das nnotwendige Verhalten angeben, Aufforderungen an das Handeln richten, damit das, was sein soll, bewusst und zielstrebig durch die Klasse erkämpft werde. Das wissenschaftliche, gesetzmäßige Beziehungen erfassende Begreifen eines gesellschaftlichen Vorgangs schließt darum sein moralisches Werten nicht aus, sondern ist eines seiner notwendigen Resultate. Mehr noch, es ist eine der unerlässlichen Triebfedern für das tiefe, immer weiterbohrende Eindringen in den objektiven Prozess.
Wer wollte bestreiten, dass solche moralische Haltung, die totale, Hirn und Herz erfassende, von unbändiger Leidenschaft des Denkens und Fühlens durchdrungene Verurteilung der bestehenden gesellschaftlichen Zustände unerlässlich war für die genialen theoretischen Leistungen von Marx, Engels und Lenin! Solches werden wir vom jungen Marx und frühen Engels sagen können: Die moralische Verurteilung ging der wissenschaftlichen Analyse der Zustände voraus. Einmal bei ihrem wissenschaftlichen Begriff angelangt, verschwand darum das moralische Urteil nicht etwa in der Vorgeschichte der moralisierenden Irrtümer über den Kapitalismus. Vielmehr konnte es nunmehr auf wissenschaftlicher Basis neu begründet, neu formuliert werden und nun erst seine ganze ideologische Kraft, seine mobilisierende Wirksamkeit entfalten. Freilich nicht als so etwas wie ein neuer Sittenkodex an alten Sittentafeln orientiert, sondern als im wissenschaftlichen Urteil eingeschlossenes Element, sich ausdrückend in seinem Aufforderungscharakter. Eben solche Urteile bilden eine wesentliche Seite der Revolutionstheorie.
Gerade dann, wenn eine wissenschaftliche Aussage gar nicht anders als durch Parteinahme für eine Klasse gewonnen werden kann, birgt sie zwangsläufig den wertenden und normierenden Gehalt in sich. Haben wir es also bei Marx und Engels, seit sie sich auf den Positionen wissenschaftlicher Analyse des Kapitalismus bewegen, mit dem Weg von der Sache zu ihrem wissenschaftlichen und ethischen Prinzip hin zu tun, gilt für den Utopismus genau das Umgekehrte. Hier wird vom ethischen Prinzip zur Wirklichkeit gegangen und genau damit, mit solchem Idealismus die Wirklichkeit selbst gründlich verfehlt. Selbst von der theoretisch gehaltsvollsten Erscheinungsform utopisch-sozialistischen Denkens, nämlich dem „kritisch-utopischen Sozialismus und Kommunismus“ (der Owenisten, der Fourieristen, der Anhänger Saint-Simons) musste das „Kommunistische Manifest“ klarmachen, dass es sich nur um eine phantastische Erhebung über den wirklichen Klassenkampf handelt, dass er in phantastischer Weise als ein Übel bekämpft wird und dass dieser Sozialismus zum Aufbau seiner „spanischen Schlösser“ – also seiner utopischen Projekte zur sozialistischen Verbesserung der Welt – „… an die Philanthropie der bürgerlichen Herzen und Geldsäcke appellieren“ muss. [1/15] Letztlich lebt auch hierin noch eine idealistische gesellschaftsphilosophische Prämisse des bürgerlichen Aufklärungsmaterialismus fort: Durch Aufklärung, durch Vernunft, durch neue Moral zur neuen Gesellschaft.
Ferner ist anlässlich des Engelsschen Wortes von der „Unsittlichkeit des bisherigen Zustandes der Menschheit“ dies zu vermerken: Selbstredend darf im Hinblick auf gesellschaftliche Zustände, gesellschaftliche Handlungen, gesellschaftliche Einrichtungen moralisch geurteilt werden, kann von ihnen gesagt werden, sie seien moralisch gut oder moralisch schlecht. Ein idealistisches Fehlurteil ist dies dann, wenn es aus einer theologisch-religiösen Satzung hergeleitet wird, von einem Gott als oberstem moralischen Gesetzgeber gerechtfertigt erscheint. –
Die christlichen Kirchen haben es in ihren fast zwei Jahrtausende währenden Anpassungs- und Wandlungsprozessen stets verstanden, die moralische Autorität ihres katholischen oder protestantischen Gottes bald für den feudalabsolutistischen Souverän, bald für die feudale Aristokratie, bald für den Kapitalismus und diese oder jene Fraktion der Kapitalistenklasse anzurufen und höchst irdisch und praktisch einzusetzen, nämlich zur Sanktionierung des jeweils bestehenden Ausbeutungszustandes, des konkreten ökonomischen und politischen Klasseninteresses der Ausbeuterklasse.
Nicht Moral oder Amoral bilden dabei die Alternative, vielmehr belegt dies, also beispielsweise die moralische Rechtfertigung des kapitalistischen Privateigentums durch die katholische Kirche oder die Weihe des US-amerikanischen Krieges gegen Korea durch amerikanische Bischöfe, oder auch der Segen von Kardinälen für konterrevolutionäre Putschversuche, dies alles belegt nur, wie sich in moralischen Wertungen Klasseninteressen aussprechen.
Kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung der Werktätigen ist so selbstredend moralisch vom Standpunkt der Kapitalistenklasse; das moralische Bejahen dessen drückt das objektiv bedingte Verhalten und Handeln der Kapitalistenklasse ideologisch aus. –
Die rigorose moralische Verurteilung desselben Verhältnisses der Ausbeutung und Unterdrückung kann durchaus den Klassenstandpunkt des Proletariats ideologisch ausdrücken.
Ist damit ein relativistisches Gleichheitszeichen zwischen bürgerlicher und proletarischer Moral gesetzt? In einer Beziehung ja: In Beziehung auf das sich in gegensätzlichen Moralstandpunkten ausdrückende gegensätzliche Klasseninteresse. –
Konkrete Moral und Gegenmoral, moralisches Gutheißen und Verwerfen ein und desselben Verhältnisses durch entgegengesetzte Klassen drückt ein Gemeinsames, eben das objektiv entgegengesetzte Klasseninteresse aus.«
Moralische Norm im Kapitalismus: Ein Kapitalist schlägt viele andere tot.
»In einer anderen Beziehung gilt diese Gleichsetzung keineswegs. Die Moral der einen Seite – von der anderen Seite des gesellschaftlichen Widerspruchsverhältnisses als Amoral angeprangert – die Moral auf der Seite der Sklavenhalter, der Feudalherren, der Kapitalisten, ist die Moral stets einer ausbeutenden und unterdrückenden Minderheit, Ausdruck nicht zuletzt ihres Herrschaftsanspruchs über die werktätige Mehrheit des Volkes in allen Gesellschaftsepochen. –
Dabei gehört es zu ihrer Funktionstüchtigkeit als ideologisches Herrschaftsinstrument – in ihren etwa in Gottes Namen ausgesprochenen Geboten und Verboten bezüglich der Aufrechterhaltung und Befestigung des jeweils bestehenden Gesellschaftssystems – als allgemeinverbindliches, alle Menschen, alles Verhalten umgreifendes Normengefüge geglaubt und anerkannt zu werden. –
Die oberste, nicht nur politische und juristische, sondern eben auch moralische Norm der kapitalistischen Gesellschaft, die Unantastbarkeit des privaten Eigentums an Produktionsmitteln – bald als „Grundrecht“ der „Freiheit der Persönlichkeit“, der „Unverletzlichkeit“ der „Würde des einzelnen“ u. dgl. verkündet, welche Freiheit stets als Grundrecht des privaten Eigentums und welche Würde stets als Unverletzlichkeit eben des Eigentums sich herausstellt –, muss in der bürgerlichen Gesellschaft als Norm für die werktätige Masse der Nichteigentümer durchgesetzt werden. –
Ihre Verletzung dagegen durch die Eigentümer – ein Kapitalist schlägt viele andere tot, d. h. enteignet andere – ist vorausgesetzt für die Durchsetzung einer Entwicklungstendenz dieser Gesellschaft selbst, der Konzentration der Produktionsmittel. [2/16]«
„Unsittlichkeit des bisherigen Zustandes der Menschheit.“
»Nochmals also, worauf kann sich Engels’ Urteil gründen, die bisherige Menschheitsgeschichte sei „unsittlich“? Sie verdient diese Verurteilung einmal vom Standpunkt der werktätigen Volksmassen – aller Reichtum der Antike, des Feudalzeitalters, des Kapitalismus ist ihr Werk, es ist wesentlich die Geschichte ihrer Arbeitstaten, ihrer materiellen Produktionstätigkeit, Basis aller Kultur. Gleichwohl ist es nicht ihr Reichtum, hat sie an seinem Genuss gar nicht oder nur höchst beschränkt Anteil, genießt nicht das werktätige Volk ihn, sondern die Minderheit der Ausbeuter. Darüber hinaus gilt: In Krisensituationen eines Herrschaftssystems, in revolutionären Situationen, da die herrschende Ausbeuterklasse stets, solang sie dazu fähig ist, in der barbarischsten und brutalsten Weise gegen die rebellierenden Volksmassen zurückschlägt, die Konterrevolution durchführt, unter solchen Umständen verwandeln sich die von den arbeitenden Menschen geschaffenen materiellen Güter in ebenso viele Waffen und Mordwerkzeuge gegen sie selbst. Auch das gehört zur übergreifenden „Unsittlichkeit des bisherigen Zustandes der Menschheit.“
Nach der Verständigung über den objektiven sozialen und Klasseninhalt jedes moralischen Urteils wird klar: Engels darf mit der Parteinahme für die Arbeitenden ein solches Urteil fällen. Es drückt eine wesentliche, objektive Seite ihrer Stellung und Haltung gegenüber den Herrschenden aus. {…}«
Anmerkungen
1/15 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, S. 491.
2/16 »Über diese Tendenz sagt Engels in den „Umrissen zur Kritik der Nationalökonomie“: „Die Vorteile, die der größte Fabrikant und Kaufmann über den Kleinen, der große Grundbesitzer über den Besitzer eines einzigen Morgens hat, sind bekannt. Die Folge hiervon ist, dass schon unter gewöhnlichen Verhältnissen das große Kapital und der große Grundbesitz das kleine Kapital und den kleinen Grundbesitz nach dem Recht des Stärkeren verschlingen – die Zentralisation des Besitzes … Diese Zentralisation des Besitzes ist ein dem Privateigentum ebenso immanentes Gesetz wie alle anderen …“ (F. Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, S. 522).«
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.4. Wissenschaftliches und Werturteil, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.
30.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)