Der Weg der Befreiung, Klassenkampf und politische Machteroberung
Die „Deutsche Ideologie“ über den Weg von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“
von Otto Finger
Mit diesem bekannten Ausdruck von Friedrich Engels wird jener Entwicklungsprozess der Arbeiterklasse beschrieben, worin sie aus der ohnmächtig unterdrückten, nur spontan handelnden, dem Druck der bürgerlichen Ideologie erlegenen Klasse zur selbstbewusst kämpfenden, ihre Stellung im Kapitalismus wissenschaftlich begreifenden und revolutionär aufhebenden Klasse emporsteigt. Sozialökonomische, organisatorische und ideologische Aspekte dieses widerspruchsvollen Entwicklungsprozesses der Arbeiterklasse von der Spontanität zur Bewusstheit werden durch Marx und Engels durchaus schon vor dem „Kommunistischen Manifest“ – und seine Lehre von der Partei vorbereitend – behandelt.
Der Schwerpunkt der gesamten sozialtheoretischen Entwicklung von den „Manuskripten“ bis zum „Manifest“ liegt in der Klärung der objektiven Bedingungen für die Emanzipation der Arbeiterklasse, für ihren Klassenkampf und die sozialistische Revolution. Dabei ist gesellschaftlich durchgeführter Materialismus von Anbeginn in einer weltanschaulich wesentlichen Beziehung das gerade Gegenteil des bürgerlichen Materialismus: Er arbeitet nicht die Materialität, die Objektivität, die Gesetzmäßigkeit geschichtlicher Prozesse heraus, um den tätigen Menschen darin auszulöschen, sondern gerade um die grundlegenden geschichtlichen Verhältnisse als Produkte materieller gesellschaftlicher Arbeitstätigkeit nachzuweisen. Engels hat im Alterswerk darauf hingewiesen, dass er und Marx gegenüber den objektiven materiellen Bedingungen geschichtlicher Vorgänge, gegenüber der ökonomischen Entwicklung die Rückwirkung der aus ihnen erzeugten politischen und ideologischen Prozesse zunächst vernachlässigen mussten. Marx und Engels hätten die Tendenz zur undialektischen Verabsolutierung der ökonomischen Seite der gesellschaftlichen Entwicklung „teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten den Gegnern gegenüber das von diesen geleugnete Hauptprinzip (die Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens als das in letzter Instanz bestimmendes geschichtliche Moment; O. F.) zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen.“ [1/15]
Gleichwohl wäre es verfehlt, in der Entwicklungsgeschichte des theoretischen Werkes von Marx und Engels die zahlreichen Ansätze zur Aufhellung der dialektischen Totalität der geschichtlich wirkenden Momente zu leugnen. Wir haben schon darauf hingewiesen, welchen hohen Rang Marx in den „Thesen über Feuerbach“ dem theoretischen Begreifen als Voraussetzung revolutionärer Praxis zumisst. Darüber hinaus ist zu betonen, dass Marx und Engels in der Periode der Herausbildung der neuen Theorie auch andere Seiten des subjektiven Faktors herausgearbeitet haben. Den Kulminationspunkt dieser Linie ihrer theoretischen Arbeit bildet die Klärung von Wesen und Funktion des sozialistischen Staates und der Partei der Arbeiterklasse. –
Fragen des subjektiven Faktors – eingeschlossen die Rolle der Organisiertheit und Bewusstheit – sowie seine dialektische Wechselbeziehung mit den objektiven Bedingungen spielen schon in der „Deutschen Ideologie“ eine erhebliche Rolle. Von ausschlaggebender Bedeutung für die materialistisch-dialektische Korrektur der aufklärerisch-materialistischen Milieutheorie und ihres Nachhalls im Junghegelianismus sind Gedanken wie die folgenden: Die Verhältnisse der Individuen können unter allen Umständen nichts anderes sein als ihr wechselseitiges Verhalten. [2/16] Ferner: Die jeweilig herrschenden Zustände sind Zustände historisch-konkreter Menschen und ihre Umwandlung kann nur dadurch geschehen, dass die Menschen selbst sich wandeln. [3/17] Schließlich: „In der revolutionären Tätigkeit fällt das Sich-Verändern mit dem Verändern der Umstände zusammen.“ [4/18]
Die unmittelbare Angriffsrichtung der erstgenannten These ist der Stirnersche Individualismus, in welchem die gesellschaftliche und klassenbedingte Grundlage aller individuellen Verhältnisse verschwindet. Marx und Engels enthüllen die Anschauung vom Agieren des „reinen Ichs“ als subjektiv-idealistische Spekulation, die von diesen beiden bestimmenden Tatsachen abstrahiert: Erstens, dass die Entwicklung eines Individuums durch die Entwicklung aller anderen, mit denen es mittelbar und unmittelbar im Verkehr steht, bedingt ist. [5/19] Anders: Jedes Individuum ist gesellschaftlich bedingt. Zweitens: Diese seine gesellschaftliche Bedingtheit ruht auf materiellen Grundlagen. Die Individuen treten primär stets deshalb miteinander in Verkehr, weil die Notwendigkeit der materiellen Produktion ihres Lebens und ihre materiellen Bedürfnisse dies erfordern. Das bedeutet drittens: Produktion und Bedürfnisse sind selbst keine überhistorischen Abstrakta, sondern existieren stets nur als historisch-bestimmte. Die Vergesellschaftung der Individuen, die Art und Weise, wie die Individuen miteinander in gesellschaftlichen Verkehr treten, wird durch eine jeweils bestimmte Entwicklungsstufe ihrer Produktionskräfte und ihrer Bedürfnisse geprägt. Viertens: Letzteres wiederum, die konkret-historische Stufe und Art der Vergesellschaftung der Individuen, hat Bedingungen zur Voraussetzung, die ihnen gegenüber, den einzelnen Menschen konkreter Epochen, dergestalt als objektive gegenübertreten, dass sie von ihrem eigenen Tun und Wollen unabhängig sind. Es zeigt sich nämlich, „dass die verschiedenen Generationen von Individuen, die miteinander in Verhältnisse treten, einen Zusammenhang unter sich haben, dass die späteren in ihrer physischen Existenz durch ihre Vorgänger bedingt sind, die von ihnen akkumulierten Produktivkräfte und Verkehrsformen übernehmen und dadurch in ihren eignen gegenseitigen Verhältnissen bestimmt werden“ [6/20].
Marx und Engels begründen so auf materialistisch-dialektische Weise das wirkliche Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Geschichte. Der historische Materialismus klärt, in welchem wirklichen gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhang die Aktivität des Individuums sich entfaltet. Zugleich wird deutlich: Kein einziger gesellschaftlicher und geschichtlicher Zusammenhang kann anders begriffen werden als aus dem Handeln der Individuen heraus. Dieser Gesichtspunkt ist so elementar in den Grundlagen der materialistischen Geschichtsauffassung verankert, dass Lenin später in der Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Volkstümlerideologie als marxistische Selbstverständlichkeit formulieren konnte: „… der materialistische Soziologe, der bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse der Menschen zum Gegenstand seiner Untersuchung macht, erforscht damit auch die realen Persönlichkeiten, aus deren Handlungen diese Verhältnisse ja hervorgehen.“ [7/21]
Die dialektische Wechselbeziehung zwischen einzelnen und sozialem Verband wurzelt in einer materiellen Notwendigkeit: der Notwendigkeit der Produktion. Und sie hat materielle historische Voraussetzungen: Produzieren heißt auch, die historisch gewordenen und erworbenen Produktivkräfte in Bewegung setzen. –
Für die Herausbildung der marxistischen Lehre vom proletarischen Klassenkampf und der Rolle der politischen proletarischen Organisation – also eines entscheidenden subjektiven Faktors, nur durch das bewusste Handeln der Proletarier zu schaffenden und zu entwickelnden Faktors – ist der skizzierte Standpunkt in der folgenden Beziehung von wesentlicher Bedeutung:
• Die Entwicklung des individuellen Proletariats wird bedingt durch die Entwicklung aller andern, mit denen er in „direktem oder indirektem Verkehr steht“.
• Die Entwicklung des Verhaltens und handeln der Gesamtheit aller Proletarier, der proletarischen Klasse, ist auf jeder Stufe zunächst durch ihre objektive Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess und durch die akkumulierten Produktivkräfte und „Verkehrsformen“ bedingt.
• Die Organisation des Proletariats fällt generell unter diesen gesetzmäßigen Zusammenhang: Sie ist zunächst wie jedes andere gesellschaftliche Verhältnis durch objektive Bedingungen in ihrem Wesen und ihren Aufgaben bestimmt. Und sie ist, wie jedes andere gesellschaftliche Verhältnis nichts anderes als das „wechselseitige Verhalten“ ihrer Glieder, der einzelnen Proletarier.
Die entscheidende Besonderheit der Organisation des Proletariats gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Verhältnissen und Organisationen ergibt sich nun daraus, dass ihr die Aufgabe zufällt, gerade die objektiven Bedingungen aufzuheben, in denen die proletarische Klasse als Proletariat, als Klasse der eigentumslosen, ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiter [werktätigen Frauen und Männer] existiert. Ihre Aufgabe ist es, den Zwang der historisch gewordenen und bestehenden Verhältnisse, ihre feindliche Gewalt gegen die produzierenden Individuen aufzubrechen. Sie hat in diesem Sinne „die Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit“ zu beseitigen. Ihr Ziel ist es in eben diesem Sinne, die „Naturwüchsigkeit“ der gesellschaftlichen Verhältnisse, ihr Wirken als blinder, weil nicht begriffener Naturgewalten, als nicht begriffener, weil nicht beherrschter Gewalten zu beseitigen. So ist ihr Ziel die Befreiung des arbeitenden Menschen.
Obzwar von proletarischer Organisation erst im „Elend der Philosophie“ expressis verbis die Rede ist, werden in der „Deutschen Ideologie“ die skizzierten Grundlagen für die Bestimmung der objektiven Bedingungen, der Besonderheiten ihrer sozialen Qualität, ihres Wirkens und ihres Ziels gelegt. Und zwar in der zunächst noch ganz abstrakten Form, dass Marx und Engels von einem Grundgebrechen der bürgerlichen Produktionsweise auf die Aufgabe der in ihr existierenden Individuen schließen. Dabei freilich, in dieser abstrakten Gestalt, entwickeln sie solche Kriterien für das Wirken und die Ziele der Klassenorganisation des Proletariats – und ihrer höchsten Form, der Partei –, die sich in der Folgeentwicklung als gültig für ihr revolutionäres Wesen erwiesen haben. Und sie sind aktuell für die Abgrenzung der wirklich revolutionären von der scheinrevolutionären und opportunistischen Politik. Es heißt in der „Deutschen Ideologie“:
„In der gegenwärtigen Epoche hat die Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit, ihre schärfste und universellste Form erhalten und damit den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Sie hat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Verhältnisse und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft der Individuen über die Zufälligkeiten und die Verhältnisse zu setzen. Sie hat nicht … die Forderung gestellt, dass ,Ich mich entwickle’, was jedes Individuum bis jetzt ohne Sanchos (Stirners, U. F.) guten Rat getan hat, sie hat vielmehr die Befreiung von einer ganz bestimmten Weise der Entwicklung vorgeschrieben. Diese durch die gegenwärtigen Verhältnisse vorgeschriebene Aufgabe fällt zusammen mit der Aufgabe, die Gesellschaft kommunistisch zu organisieren.“ [8/22] –
In der Tat ist hiermit diese doppelte Hauptaufgabe der Partei der Arbeiterklasse und des [künftigen und vorübergehenden] sozialistischen Staates ausgesprochen: Es geht erstens um die Befreiung der Arbeiterklasse von der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung. Genau das ist der konkrete Inhalt der Forderung, die Befreiung von einer „ganz bestimmten Weise der Entwicklung“ der gesellschaftlichen Produktion durchzuführen.
Karl Marx und Friedrich Engels bekräftigen hierbei nochmals, dass diese Emanzipation die Aufhebung des Privateigentums sein muss, und zwar „weil die Produktivkräfte und die Verkehrsformen sich soweit entwickelt haben, dass sie unter der Herrschaft des Privateigentums zu Destruktivkräften geworden sind, und weil der Gegensatz der Klassen auf seine höchste Spitze getrieben ist“ [9/23].
Es geht zweitens nicht bloß um die Aktion zur Vernichtung der alten Ausbeutungsverhältnisse, sondern, wie dies Lenin später nennt, um die schöpferische Aufgabe, neue Produktionsverhältnisse zu organisieren, eben die ganze Gesellschaft kommunistisch zu organisieren.
Wir erkennen: Die Herausbildung der bestimmenden sozialökonomischen Voraussetzungen der sozialistischen Revolution, der objektiven Widerspruchsverhältnisse ist unmittelbar verflochten mit der Erkenntnis, dass die kommunistische Notwendigkeit sich nicht im Selbstlauf durchsetzt. Es bedarf hierzu des subjektiven Faktors. Karl Marx und Friedrich Engels waren keine Spontaneitätstheoretiker. Sie sprechen von der Aufgabe, die den Individuen gestellt ist. Die kommunistische Zukunft muss erkämpft werden. Die revolutionäre Befreiung der Gesellschaft vom kapitalistischen Privateigentum ist der erste Schritt dahin. Der nächste aber die Organisation dieser Verhältnisse. Für beides ist freilich das revolutionäre Bewusstsein notwendig. Marx und Engels heben aus den verschiedenen Formen, in denen Ideologie als Klassenbewusstsein sich ausdrückt und gesellschaftlich wirkt, als erste diese heraus: „… die Vorstellung von den revolutionären Aufgaben, die einer unterdrückten Klasse materiell vorgeschrieben sind.“ [10/24]
Es sei betont, dass die abstrakte Form, in der Marx und Engels von den revolutionären Aufgaben der Individuen sprechen, in dem konkreten Zusammenhang der Polemik gegen Stirners subjektivistische und individualistische Phraseologie gesehen werden muss. In der „Deutschen Ideologie“ ist ja deutlicher und umfassender noch als in den vorherigen Arbeiten die proletarische Klasse als Subjekt der kommunistischen Revolution begründet. Keineswegs lässt sich – ohne rigorose Verfälschung – aus der „Deutschen Ideologie“ Kapital für eine individualisierend anthropologische Aufweichung des Klasseninhalts des historischen Materialismus schlagen. Vielmehr beziehen Marx und Engels sowohl im ersten, der Feuerbachkritik gewidmeten Kapitel als auch in den übrigen Partien Front gegen jede Art von Anthropologie. Immer wieder kritisieren sie den Grundirrtum des Stirnerschen Geschichtsidealismus und auch der Spekulationen des „wahren Sozialismus“. Wir hatten im 2. Kapitel auf die philosophisch-anthropologischen Ausgangspunkte des Sebagschen Variante von Strukturalismus hingewiesen. Für ihn trifft ebenso wie für Stirner zu, dass es „reiner Unsinn“ ist, anzunehmen, die Menschen hätten sich immer einen Begriff vom Menschen gemacht und sich dann jeweils so weit befreit wie nötig war, um diesen Begriff zu verwirklichen. So dass dann das jedmalige Maß an Freiheit durch die Vorstellung vom Ideal des Menschen bewirkt wäre. Die Differenz jedes Individuums zum Ideal würde dann als „unmenschlich“ gelten. [11/25]
In der Polemik mit diesem spekulativen Begriff von „Menschlichkeit“ und „Unmenschlichkeit“ klären Marx und Engels, was wirklicher Inhalt der geschichtlichen Bewegungen, speziell der geschichtlichen Emanzipationskämpfe ist. Sie tun es in einer Weise, die fast wortwörtlich die berühmte Anfangsthese des „Kommunistischen Manifestes“ vorwegnimmt: „In der Wirklichkeit trug sich die Sache natürlich so zu, dass die Menschen sich jedesmal soweit befreiten, als nicht ihr Ideal vom Menschen, sondern die existierenden Produktivkräfte ihnen vorschrieben und erlaubten. Allen bisherigen Befreiungen lagen indes beschränkte Produktivkräfte zugrunde, deren für die ganze Gesellschaft unzureichende Produktion nur dann eine Entwicklung möglich machte, wenn die Einen auf Kosten der Andern ihre Bedürfnisse befriedigen und dadurch die Einen – die Minorität – das Monopol der Entwicklung erhielten, während die Andern – die Majorität – durch den fortgesetzten Kampf um die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse einstweilen (d. h. bis zur Erzeugung neuer revolutionierender Produktivkräfte) von aller Entwicklung ausgeschlossen wurden. So hat sich die Gesellschaft bisher immer innerhalb eines Gegensatzes entwickelt, der bei den Alten der Gegensatz von Freien und Sklaven, im Mittelalter der vom Adel und Leibeigenen, in der neueren Zeit der von Bourgeoisie und Proletariat ist.“ [12/26]
Die bewusste Organisation der kommunistischen Verhältnisse, worin, wie Marx und Engels betonen, die „originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist“, wird in unauflöslicher Verbindung von objektiven Bedingungen und subjektiven Faktoren begründet. Die freie Entwicklung der Menschen ist hier nämlich durch einen Zusammenhang der Individuen bedingt, der seinerseits „teils in den ökonomischen Voraussetzungen besteht, teils in der notwendigen Solidarität der freien Entwicklung Aller, und endlich in der universellen Betätigungsweise der Individuen auf der Basis der vorhandenen Produktivkräfte“ [13/27].
Ohne die Selbstveränderung der Akteure keine revolutionäre Aktion. Auch dieser Gesichtspunkt, auch diese Seite der dialektischen Kritik der Milieutheorie gehört zu den allgemeinsten philosophischen Voraussetzungen für das Aufkeimen und die Herausbildung der Lehre von der revolutionären Partei und des sozialistischen Staates. Die Partei der Arbeiterklasse ist jene Kraft, die das Proletariat zur revolutionären Aktion befähigt, indem sie das „Sich-Verändern“ dieser Klasse vor, während und nach der Machteroberung organisiert und leitet.
Die „Deutsche Ideologie“ arbeitet einige wesentliche Seiten des widerspruchsvollen Prozesses heraus, in welchem die Arbeiterklasse zum Bewusstsein ihrer selbst und zur Vereinigung als Klasse gelangt. „Die Proletarier kommen aber in der Wirklichkeit erst durch eine lange Entwicklung zu dieser Einsicht, eine Entwicklung, in der der Appell an ihr Recht auch eine Rolle spielt. Dieser Appell an ihr Recht ist übrigens nur ein Mittel, sie … zu einer revolutionären, verbündeten Masse zu machen.“ [14/28] –
Marx und Engels betonen dies im Gegensatz zu der unhistorischen und subjektiv-idealistischen Auffassung Max Stirners, dass das Proletariat eine „geschlossene Gesellschaft“ bilde, dass es nur den Beschluss des „zugreifens“ zu fassen habe und dass dann sofort, „am nächsten Tage der ganzen bisherigen Weltordnung summarisch ein Ende“ [15/29] bereitet wäre. Diese Polemik gegen die kleinbürgerlich-utopistische Vorstellungswelt eines der Stammväter des Anarchismus berührt auch noch Kernfragen des heutigen Neoanarchismus. Anarchisten, jede Art Anhänger der Idee einen „großen Sprungs“ in die Zukunft, der Umgehung der langwierigen evolutionären Vorbereitung einer revolutionären Situation, Verkünder eines revolutionären Kraftakts, der mittels der Anspannung des Willens, der Moral, des subjektiven Intellekts einiger weniger oder auch bloß der Aufklärung der Verelendeten in die bessere Welt von Morgen führt – Anarchisten, welcher ideologischen und politischen Herkunft auch immer, begehen diesen von Marx und Engels hervorgekehrten Grundfehler: Sie verkennen sowohl die tatsächlichen objektiven Bedingungen als auch die subjektiven Faktoren, die für eine revolutionäre Umwälzung erforderlich sind. Insbesondere verfehlen ihre Konzepte – gleichgültig ob sie aktiv terroristisch orientiert sind oder eher auf den Effekt der lumpenproletarischen „großen Weigerung“, der Weigerung gegen Zivilisation und Klassenkampf bauen – die objektive Notwendigkeit, die historische Langwierigkeit und Widersprüchlichkeit der Entwicklung des Proletariats zu einer organisiert und einheitlich kämpfenden Klasse. –
Die Unauflöslichkeit der objektiven und der subjektiven sowie der norganisatorischen und der ideologischen Seite der revolutionären Handlungsfähigkeit der Arbeiterklasse ist in der zitierten Aussage besonders augenfällig unterstrichen. „Verbündet“ zu sein – das heißt organisiert zu sein – begegnet uns in der Formulierung als gleichbedeutend mit revolutionär zu sein. Damit aber eine solche Verbundenheit der Proletarier zustande kommt, ist sowohl eine lange historische Entwicklung notwendig als auch die Formierung des Klassenbewusstseins der Proletarier, der „Appell an ihr Recht“.
Was steht nun der Vereinigung der Proletarier entgegen? Eines vor allem: die „freie Konkurrenz der Arbeiter unter sich“ [16/30]. Die kapitalistische Produktionsweise unterwirft selbstredend auch die Proletarier unter die herrschenden Produktionsbedingungen, unter die Bedingungen der Arbeitsteilung und der Konkurrenz der Warenbesitzer. Auch die Arbeiter treten auf dem kapitalistischen Markt als Warenbesitzer auf: ihre Ware, die sie verkaufen, ist die Arbeitskraft. Sie konkurrieren untereinander. Wo es innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse zu „gemeinschaftlichen Anstalten“ der Produzenten gekommen ist, sind sie der Konkurrenz des Kapitals erlegen.
Da die Arbeiter selbst im Gefolge der Arbeitsteilung entgegengesetzte Interessen haben, ist eine „andere als politische, gegen den ganzen jetzigen Zustand gerichtete“ [17/31] Emanzipation unmöglich. –
In anderen Worten: Einzig der politische Klassenkampf kann die Grundlagen der Ausbeutung beseitigen. –
Notwendig ist die politische Vereinigung der Arbeiter. Vereinigungen, die einzig ökonomische Zwecke verfolgen – dazu gehören „gemeinschaftliche Anstalten“, Produktions- und Konsumtionsgenossenschaften –, führen innerhalb der bestehenden Verhältnisse zwangsläufig zum Scheitern, auch zur Anpassung an sie. Im besten Falle zur temporären Verbesserung der Lage der Werktätigen. –
Die „Deutsche Ideologie“ arbeitet so einem entscheidenden Punkt der voll durchgebildeten Lehre von der Partei vor. Die historische Notwendigkeit der Partei erwächst aus der historischen Notwendigkeit des politischen Kampfes der Arbeiter. Dieser aber wird hier so bestimmt, dass er dann und nur dann revolutionär ist, wenn er gegen die Grundlagen der Lage der Arbeiter im Kapitalismus geführt wird. –
Die Eigentumsverhältnisse werden durch den bürgerlichen Staat [bzw. den Staat des ‘Sozialismus nationaler Prägung’ oder der “Sozialen Marktwirtschaft“ – und analogen ideologisch-idealistischen Nonsens etc.] garantiert. Damit wird klar: Es kann von keinem revolutionären Kampf, keiner vollauf konsequenten Durchsetzung der Arbeiterinteressen die Rede sein, wenn die Aktivität sich nicht bis auf diese ausschlaggebend politische Frage erstreckt – eben die Machtfrage.
Marx und Engels begreifen hierbei auch die Erfahrungen plebejisch-bäuerlichen und vorproletarischen Widerstandes gegen r Ausbeuterverhältnisse ein. So verweisen sie auf „Arbeiterunruhen“, die schon unter dem byzantinischen Kaiser Zeno (426–491) zur Schaffung bestimmter Gesetze führten, auf den Bauernaufstand unter Wat Tyler (1381), an den „evil may-day“ von 1518 in London (Aufstand der armen Schichten der Londoner Bevölkerung gegen das ausländische Kaufmannskapital), den englischen Bauernaufstand von 1549 unter der Führung Robert Kets, die Aufstände in Paris von 1640 und 1659. Marx und Engels sprechen von dem „beständigen Krieg, der seit 1770 in England und seit der Revolution in Frankreich von den Arbeitern gegen die Bourgeoisie mit Gewalt und List geführt wird“ [18/32] Marx und Engels weisen ferner darauf hin, dass seit 1830, also innerhalb von anderthalb Jahrzehnten, „wenigstens fünfzig Versuche gemacht wurden … um die sämtlichen Arbeiter nur von England in eine einzige Assoziation zusammenzubringen, und dass höchst empirische Gründe das Gelingen all dieser Projekte vereitelten“ [19/33].
Mit letzterem unterstreichen Karl Marx und Friedrich Engels erneut, dass die Arbeiter keineswegs spontan eine „geschlossene Gesellschaft“ bilden, sondern dass die schon genannten „empirischen Gründe“ der Vereinigung entgegenstehen. Zugleich liefern die Erfahrungen der Vereinigungsbestrebungen und der Arbeiteraufstände die Basis für eine Grundthese der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie: Es ist die staatliche Macht der herrschenden Ausbeuterklasse, die alle Mittel des ideologischen Betrugs und der bewaffneten Gewalt einsetzt, um der Aktionseinheit der Ausgebeuteten entgegenzuwirken und den Kampf um die Beseitigung der Grundlagen der Ausbeutung zu ersticken. –
Dass aber die staatliche Gewalt der Ausbeuter dies vermag, hat selbst objektive Grundlagen. Ehe nicht der Industriekapitalismus voll durchgebildet ist, kann es nicht zu jener Massenhaftigkeit und Einheitlichkeit des Kampfes der ausgebeuteten Arbeitermassen gegen die Grundlagen der Ausbeutung kommen, die notwendig ist, um die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. Der Typ der Arbeiteraufstände und seiner Ergebnisse hängt zunächst vom Grad der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, ihren Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ab. Dies ist zunächst das allgemeinste materialistische Resultat der Verallgemeinerung der Erfahrungen der Klassenkämpfe. „Die früheren Formen der Arbeiteraufstände hingen mit der jedesmaligen Entwicklung der Arbeit und der dadurch gegebenen Gestalt des Eigentums zusammen; die direkt oder indirekt kommunistische Insurrek[tio]n mit der großen Industrie.“ [20/34]
Die Analyse des Werdens der Arbeiterklasse zur Klasse „für sich“ kulminiert in der „Deutschen Ideologie“ in den folgenden Leitsätzen proletarisch-revolutionärer Politik:
Von der Arbeiterklasse geht das Bewusstsein der „Notwendigkeit einer gründlichen Revolution“ [26/35] aus. Dass dieses Bewusstsein nur durch das Wirken der Partei der Arbeiterklasse seine wissenschaftliche Entwicklungshöhe erreicht, wird erstmals im „Manifest“ ausgesprochen. Die ideologische Führungstätigkeit der Partei ist vorausgesetzt, um das historische Gesetz dieser Notwendigkeit im Bewusstsein der Proletarier zu verankern. Aber die wissenschaftlich-theoretische Arbeit der Partei und ihre ideologische Führungstätigkeit knüpfen am sich spontan entwickelnden Bewusstsein der Arbeiter von der Not-Wendigkeit, am Bewusstsein der Not, die zur Wendung des bisherigen Geschichtsverlaufs drängt, an. Der erste spontane Ausdruck des kommunistischen Bewusstseins als eines Bewusstseins der Not, die nur durch radikales Handeln aufhebbar wird, ist die Leidenschaft. Die Not des Proletariats nimmt eine so „akute, heftige Form“ an, dass sie „ihn zum Kampf auf Leben und Tod treibt, ihn revolutionär macht und deshalb keine ,Sorge’, sondern Leidenschaft produziert“. [22/36]«
Anmerkungen
1/15 Friedrich Engels, Brief an Joseph Bloch v. 21/22. September 1890, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 37, Berlin 1967, S. 465.
2/16 Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 423.
3/17 Vgl. ebenda, S. 363.
4/18 Ebenda, S. 195.
5/19 Vgl. ebenda, S. 423.
6/20 Ebenda.
7/21 W. I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 419.
8/22 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 424.
9/23 Ebenda.
10/24 Ebenda, S. 405.
11/25 Vgl. ebenda, S. 417.
12/26 Ebenda.
13/27 Ebenda, S. 424 f.
14/28 Ebenda, S. 305.
15/29 Ebenda. n
16/30 Ebenda, S. 186.
17/31 Ebenda, S. 355.
18/32 Ebenda, S. 185.
19/33 Ebenda.
20/34 Ebenda, S. 201.
21/35 Ebenda, S. 69.
22/36 Ebenda, S. 200.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 6.4. Die „Deutsche Ideologie“ über den Weg von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“, in: 6. Kapitel: Proletarischer Klassenkampf, politische Machteroberung und revolutionäre Partei der Arbeiterklasse.
05.08.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)