Kampf um Syrien

BERLIN/DAMASKUS
 Berlin und Brüssel unterstützen im Syrien-Krieg die Forderung der Türkei nach einer “Schutzzone” auf syrischem Territorium. Es müssten “Zonen definiert werden”, in denen “die Zivilbevölkerung … sicher” sei, verlangt Bundeskanzlerin Angela Merkel im Namen der EU. Tatsächlich geht es darum, Kernstellungen salafistischer Milizen im Norden Syriens dem Zugriff der syrischen Streitkräfte zu entziehen. Ankara, das dies schon lange fordert, verschärft seinen Kurs weiter und droht offen mit dem Einmarsch nach Syrien – ein Schritt, der zu einem Krieg zwischen dem NATO-Mitgliedsstaat Türkei und Russland führen könnte. Dramatische Konsequenzen drohen gleichermaßen, sollte der zweite enge Verbündete Berlins im Mittleren Osten, Saudi-Arabien, seine Ankündigung wahrmachen und den Rebellenmilizen Boden-Luft-Raketen liefern. Angesichts der Zuspitzung der Lage werden inzwischen in Teilen des westlichen Establishments besorgte Warnungen laut. So mahnt eine auflagenstarke US-Zeitung, man dürfe im Mittleren Osten nicht um jeden Preis Russland bekämpfen. Mit einer Umsturzpolitik, deren Realisierung Moskau in Syrien verhindern wolle, habe man bereits Afghanistan und den Irak in Schutt und Asche gelegt. Dies dürfe sich nicht ein drittes Mal wiederholen.
 

An Ankaras Seite
 
Auf deutsche Initiative hat die EU im Syrien-Krieg eine zentrale Forderung der Türkei übernommen und spricht sich für die Einrichtung einer sogenannten Schutzzone auf syrischem Territorium aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bereits am vergangenen Montag in klarer Abkehr von der bisherigen Berliner Politik zum ersten Mal für diese Maßnahme plädiert, für die Ankara sich seit Jahren stark macht. Am Freitag erklärte sie im Anschluss an den EU-Gipfel, man habe sich nun auch gemeinsam “dafür ausgesprochen, dass auf dem Verhandlungsweg Zonen definiert werden, in denen die Zivilbevölkerung davon ausgehen kann, dass sie sicher ist”.[1] Das deutsche Zugeständnis an die türkische Regierung ist offenbar durch Gegenleistungen Ankaras in puncto Flüchtlingsabwehr motiviert.[2] Tatsächlich geht es darum, salafistischen, teilweise sogar jihadistischen Rebellenmilizen in Nordsyrien einen Zufluchtsort vor dem Zugriff der syrischen Streitkräfte zu sichern; Merkel nannte ausdrücklich die Stadt Azaz, eine Hochburg der Jihadisten. Bleiben Berlin und Brüssel bei ihrem neuen Kurs an der Seite der Türkei – das ist aufgrund ihrer Abhängigkeit von Ankara bei der geplanten Abschottung der griechisch-türkischen Grenze nicht unwahrscheinlich -, dann hätte dies gravierende Folgen.
 

Die NATO-Beistandsgarantie
 
Tatsächlich hat die Türkei in den vergangenen Tagen mit dem völkerrechtswidrigen Beschuss Nordsyriens und mit der Durchschleusung Hunderter islamistischer Milizionäre direkt in das Kampfgebiet den Krieg weiter verschärft und droht darüber hinaus mit einem Einmarsch ihrer Truppen. Letzteres hat er frühere Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat kürzlich als “Super-Gau” eingestuft [3]: Sollte es im Fall eines türkischen Einmarschs nach Syrien zum Zusammenstoß mit russischen Truppen kommen – Ankara hat schon im Herbst einen russischen Kampfjet abschießen lassen, Vergleichbares wäre bei gleichzeitiger Kriegführung im selben Kampfgebiet auf gegnerischen Fronten leicht möglich -, wäre sogar ein offener russisch-türkischer Krieg nicht mehr auszuschließen. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat vorsorglich darauf hingewiesen, dass die NATO-Beistandsgarantie nur dann gilt, “wenn ein Mitgliedstaat in eindeutiger Weise angegriffen wird”.[4] Ankara könnte demnach, sollte es seinerseits Syrien attackieren und erst infolgedessen in einen Krieg verwickelt werden, nicht automatisch auf Beistand der NATO hoffen. Trotzdem stiege die Kriegsgefahr zwischen den großen Mächten dramatisch an.
 

Boden-Luft-Raketen
 
Während Berlin und Brüssel sich demonstrativ an Ankaras Seite stellen, hat auch der zweite Hauptverbündete Deutschlands im Mittleren Osten, Saudi-Arabien, Ende vergangener Woche angekündigt, seine ohnehin intensive Unterstützung für die Rebellenmilizen in Syrien auszuweiten. Wie der saudische Außenminister Adel al Jubeir erklärt, will Riad den Milizen Boden-Luft-Raketen zur Verfügung stellen, um es ihnen zu ermöglichen, “Hubschrauber und Flugzeuge des Regimes auszuschalten”.[5] Unklar ist, ob Saudi-Arabien dazu auf Rüstungslieferungen aus der Bundesrepublik zurückgreifen kann. Noch Anfang 2015 hatte die Bundesregierung den Export von Technik für Boden-Luft-Raketen an die saudischen Streitkräfte genehmigt, die ohnehin weiter reichlich mit deutschem Kriegsgerät ausgestattet werden: Wie Ende vergangener Woche bekannt wurde, hat die Bundesregierung 2015 den Export von Militärgerät im Wert von 270 Millionen Euro nach Saudi-Arabien genehmigt. Die Feudaldiktatur nimmt damit unter den größten Empfängern deutscher Rüstungsgüter Rang fünf ein.[6]
 

Wie in Afghanistan
 
Die Ankündigung des saudischen Außenministers ist auch deshalb folgenreich, weil die in Syrien kämpfenden Milizen mit den Boden-Luft-Raketen auch russische Flugzeuge abschießen und damit eine weitere Kriegseskalation provozieren könnten. Dass Riad entsprechende Szenarien durchaus im Blick hat, zeigt die Erläuterung von Minister Al Jubeir, die Boden-Luft-Raketen sollten die Machtverhältnisse in Syrien “so verändern, wie sie sie seinerzeit in Afghanistan verändert haben”.[7] Dort fügten die Mujahedin Anfang der 1980er Jahre den sowjetischen Truppen mit Hilfe von US-Stinger-Raketen, die den Abschuss von Hubschraubern erlabuten, schwere Verluste zu, die maßgeblich zum sowjetischen Rückzug vom Hindukusch beitrugen. Im weiteren Verlauf wurde Afghanistan von den Mujahedin weitestgehend zerstört; es hat sich bis heute nicht wieder davon erholt. Allerdings wurde Moskaus Einfluss tatsächlich erfolgreich gebrochen.
 

“Die am wenigsten schlechte Option”
 
Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Lage wird Kritik an der westlichen Syrien-Politik mittlerweile auch in Teilen des westlichen Establishments laut. Bereits kürzlich hat der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat erklärt, ohne Moskaus Eingreifen “wäre Syrien kollabiert und der IS hätte das Land übernommen”; man verdanke “den Friedensprozess” tatsächlich der russischen Intervention.[8] Ähnlich hat sich jetzt auch der US-Journalist Stephen Kinzer, der an der renommierten Brown University lehrt, im “Boston Globe” geäußert, einer auflagenstarken Zeitung, die mehrfach mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Kinzer urteilt, “Russlands Strategie, den IS und Al Qaida zu bekämpfen” und die Regierung Assad dabei zumindest vorläufig zu verteidigen, sei “die am wenigsten schlechte Option”. Dass der Westen von Beginn an kompromisslos auf Assads Sturz gesetzt habe, habe großen Teilen der syrischen Opposition “jeden Anreiz” genommen, “über einen friedlichen Wandel zu verhandeln”; das sei ein schwerer Fehler gewesen.[9]
 

“Sie hatten recht, wir lagen falsch”
 
Kinzer verweist darauf, dass die westliche Umsturzpolitik in Syrien nicht zum ersten Mal in klarem Gegensatz zum russischen Vorgehen steht. So sei bereits die von Moskau unterstützte afghanische Regierung von Mohammad Najibullah (1986-1992) immer noch “rechtschaffener und fortschrittlicher” gewesen als jede andere, die später geherrscht habe, nachdem US-unterstützte Kräfte Najibullah gestürzt hätten, schreibt Kinzer.[10] Im Jahr 2003 habe Moskau Washington gedrängt, “den Irak nicht zu überfallen und Saddam Hussein nicht zu stürzen”, heißt es in Kinzers Beitrag im “Boston Globe”: Wieder “hatten sie recht, und wir lagen falsch.” In Syrien treffe die russische Analyse zum dritten Male zu: Die Alternative zu Assad könne “ein IS-‘Kalifat’ sein, das sich vom Mittelmeer bis zum Tigris erstreckt”; das sei keinesfalls anzustreben. Kinzer fordert, der Westen müsse seine Umsturzpolitik, bevor es zum Schlimmsten komme, endlich beenden.
 

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