J.W. STALIN: Über die Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus
Dieser Beitrag des Genossen Stalin stammt aus dem Jahre 1921. Der erste Weltkrieg mit über 10 Mill. Toten und 20 Mill. Verwundeten war gerade mal 3 Jahre vorbei, das kaiserliche Deutschland hatte den Krieg verloren, als sich die deutsche Wirtschaft bereits wieder zu stabilisieren begann. Dabei drängen sich Vergleiche zu heutigen Ereignissen geradezu auf: Eine ähnliche Stabilisierung setzte auch in der BRD nach der Einverleibung der DDR ein. Nun sind die Reserven aufgebraucht, und es geht wieder an die „Substanz“, ans „Eingemachte“ – die Überproduktion ist überall zu sehen, der Staat sieht sich gezwungen, um eine rasante Steigerung der Erwerbslosigkeit zu vermeiden, zahlreichen kapitalistischen Betrieben auf Kosten des Staatshaushaltes Aufträge zu verschaffen (analog: „Autobahnbau“ im Nazi-Reich) und gleichzeitig nimmt die Verarmung deutlich zu. Doch eine Machtergreifung durch das Proletariat scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Es ist eine Zeit der Kräftesammlung. Doch sehen wir nun, was Stalin damals feststellte:
Aus dem politischen Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees an den XIV. Parteitag der KPdSU(B) 18. Dezember 1921
Erstens. Der Kapitalismus ist dabei, aus dem nach dem Krieg eingetretenen Chaos in Produktion, Handel und Finanzen, in das er geraten war, herauszukommen, oder er ist aus diesem Chaos bereits herausgekommen. Die Partei hat dies als teilweise oder zeitweilige Stabilisierung des Kapitalismus bezeichnet. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß es mit der Produktion und dem Handel der kapitalistischen Länder, die eine Zeitlang während der Periode der Nachkriegskrise (ich denke an die Jahre 1919-1920) schrecklich zurückgegangen waren, jetzt aufwärts zu gehen begonnen hat, und auch die politische Macht der Bourgeoisie hat sich mehr oder weniger zu konsolidieren begonnen. Das bedeutet, daß der Kapitalismus zeitweilig aus dem Chaos herausgekraxelt ist, in das er nach dem Krieg geraten war …
Zweitens. Statt der Periode der ansteigenden revolutionären Flut, die wir in den Jahren der Nachkriegskrise beobachten konnten, sehen wir in Europa jetzt eine Periode der Ebbe. Das bedeutet, daß die Frage der unmittelbaren Eroberung der Macht, der Machtergreifung durch das Proletariat, gegenwärtig in Europa nicht auf der Tagesordnung steht. Die Periode des Ansteigens der revolutionären Wellen, da die Bewegung vorwärtsdrängt, anschwillt und die Partei mit ihren Losungen der Bewegung nicht nachzukommen vermag, wie das zum Beispiel bei uns in den Jahren 1905 oder 1917 der Fall war – diese Periode des Aufschwungs steht erst bevor. Jetzt aber haben wir keinen Aufschwung, sondern eine Periode zeitweiliger Ebbe, eine Periode, in der das Proletariat Kräfte sammelt, eine Periode, die bedeutsame Resultate zeitigt in dem Sinne, daß sich neue Formen der Bewegung abzeichnen, daß eine Massenbewegung unter der Flagge des Kampfes für die Einheit der Gewerkschaftsbewegung vorhanden ist und wächst, daß sich Verbindungen zwischen der Arbeiterbewegung des Westens und der Arbeiterbewegung der Sowjetunion anbahnen und festigen, daß zum Beispiel die englische Arbeiterbewegung sich nach links entwickelt, daß Amsterdam zerfällt, daß in dieser Internationale ein tiefer Riß entsteht usw. usw. Ich wiederhole: Wir machen eine Zeit der Kräftesammlung durch, die große Bedeutung für die künftigen revolutionären Aktionen hat, Das ist die Periode, in der es zur Losung der kommunistischen Bewegung wird, die Massenorganisationen des Proletariats (Gewerkschaften usw.) zu erobern und die sozialdemokratischen Führer „von ihren Posten abzusetzen“, wie das bei uns in den Jahren 1911-1912 der Fall war.
Drittens. Das Zentrum der finanziellen Macht in der kapitalistischen Welt, das Zentrum der finanziellen Ausbeutung der ganzen Welt hat sich von Europa nach Amerika verlagert. Früher bildeten gewöhnlich Frankreich, Deutschland und England das Zentrum der finanziellen Ausbeutung der Welt. Heute kann man das schon nicht mehr ohne besondere Vorbehalte sagen. Heute bilden hauptsächlich die Vereinigten Staaten von Nordamerika das Zentrum der finanziellen Ausbeutung der Welt…
Viertens. Die zeitweilige Stabilisierung des europäischen Kapitalismus, von der ich vorhin gesprochen habe, ist hauptsächlich mit Hilfe von amerikanischem Kapital und um den Preis der finanziellen Unterordnung Westeuropas unter Amerika erreicht worden. Um das zu beweisen; braucht man nur die Summe der Staatsverschuldung Europas an Amerika anzuführen. Diese Summe beläuft sich auf nicht weniger als 26 Milliarden Rubel. Ich sehe ganz ab von der privaten Verschuldung an Amerika, das heißt von den Investitionen Amerikas in europäischen Unternehmungen, die für Europa eine Summe von mehreren Milliarden ausmachen. Was besagt das? Das besagt, daß Europa mit Hilfe des Kapitalzuflusses aus Amerika (teilweise auch aus England) begonnen hat, mehr oder weniger auf die Beine zu kommen. Um welchen Preis? Um den Preis der finanziellen Unterordnung Europas unter Amerika.
Fünftens. Infolgedessen muß Europa, um die Zinsen zahlen und die Schulden tilgen zu können, die Steuerlast der Bevölkerung vergrößern und die Lage der Arbeiter verschlechtern. Dies gerade geschieht gegenwärtig in den europäischen Ländern … Infolgedessen wird sich die materielle Lage der Werktätigen Europas, vor allem der Arbeiterklasse, zwangsläufig verschlechtern, und in der Arbeiterklasse wird unausbleiblich eine Revolutionierung vor sich gehen. Anzeichen dieser Revolutionierung sind bereits festzustellen sowohl in England als auch in anderen Ländern Europas. Ich denke dabei an die unverkennbare Linksentwicklung der europäischen Arbeiterklasse.
Das sind die grundlegenden Tatsachen, die davon zeugen, daß die zeitweilige Stabilisierung des Kapitalismus, die Europa erreicht hat, eine faule Stabilisierung ist, zustande gekommen auf einer morschen Grundlage …
18. Dezember 1925
Sieger und Besiegte
Die grundlegenden Tatsachen auf diesem Gebiet sind folgende.
Erstens ist Europa seit dem Versailler Frieden in zwei Lager gespalten – das Lager der Besiegten (Deutschland, Österreich und andere Länder) und das Lager der Sieger (die Entente plus Amerika).
Zweitens muß der Umstand vermerkt werden, daß die Sieger, die früher versuchten, die besiegten Länder mittels der Okkupation zu erwürgen (ich erinnere Sie an das Ruhrgebiet), auf dieses Mittel verzichtet haben und zu einer anderen Methode übergegangen sind, zur Methode der finanziellen Ausbeutung in erster Linie Deutschlands und in zweiter Linie Österreichs.
Der Dawesplan
Ein Ausdruck dieser neuen Methode ist der Dawesplan, dessen negative Auswirkungen sich erst jetzt zeigen. Drittens hat die Konferenz von Locarno, die angeblich alle Gegensätze zwischen Siegern und Besiegten aus der Welt geschaffen hat, in Wirklichkeit trotz des Lärms, der um diese Frage gemacht wird, faktisch keinerlei Gegensätze beseitigt, sondern diese lediglich verschärft.
Der Sinn des Dawesplans besteht darin, daß Deutschland nicht mehr und nicht weniger als rund 130 Milliarden Goldmark zu verschiedenen Fristen an die Entente zu zahlen hat. Die Resultate des Dawesplans zeigen sich bereits in einer Verschlechterung der ökonomischen Lage Deutschlands, im Zusammenbruch einer ganzen Anzahl von Unternehmungen, im Anschwellen der Arbeitslosigkeit usw.
Der in Amerika aufgestellte Dawesplan sieht so aus: Europa zahlt seine Schulden an Amerika auf Kosten Deutschlands, das Reparationen an Europa zu zahlen hat; da Deutschland aber diesen ganzen Betrag nicht aus dem Nichts herauspumpen kann, so soll Deutschland eine Reihe von freien Märkten, die noch nicht von anderen kapitalistischen Ländern besetzt sind, erhalten, damit es dort neue Kräfte und neues Blut für Reparationsleistungen schöpfen kann. Abgesehen von einer Reihe unbedeutender Märkte hat Amerika dabei unsere russischen Märkte im Auge. Sie sollen laut Dawesplan Deutschland überlassen werden, damit es etliches herauspressen kann und etwas hat, um die Reparationszahlungen an Europa leisten zu können, das seinerseits für Rechnung seiner Staatsschulden an Amerika zahlen soll.
Dieser ganze Plan sieht zwar schön aus, aber die Rechnung ist ohne den Wirt gemacht, denn dieser Plan bedeutet für das deutsche Volk eine, doppelte Auspressung, die Auspressung des Proletariats Deutschlands durch die deutsche Bourgeoisie und die Auspressung des ganzen deutschen Volkes durch das Auslandskapital. Wollte man sagen, diese doppelte Auspressung werde am deutschen Volk spurlos vorübergehen, so hieße das in einen Irrtum verfallen.
Deshalb glaube ich, daß in dieser Hinsicht der Dawesplan den Keim einer unvermeidlichen Revolution in Deutschland in sich trägt. Er wurde aufgestellt, um Deutschland zu befrieden, aber er, der Dawesplan, muß unvermeidlich zur Revolution in Deutschland führen. Der zweite Teil dieses Planes, demzufolge Deutschland aus den russischen Märkten die Kopeken für Europa herauspressen soll, ist ebenfalls eine Rechnung, die ohne den Wirt gemacht wurde. Weshalb? Weil wir gar nicht daran denken, uns zu einem Agrarland für irgend ein anderes Land machen zu lassen, auch nicht für Deutschland. Wir werden selbst Maschinen und Produktionsmittel herstellen. Darauf zu spekulieren, daß wir einverstanden sein würden, unser Heimatland in ein Agrarland für Deutschland zu verwandeln, bedeutet aber, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. In dieser Hinsicht steht der Dawesplan auf tönernen Füßen …
J. W. Stalin, Werke. Bd.7. Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 229-233,235-237. (Beide Zitate sind entnommen aus: „Zur Geschichte der KPD“, Dietz Verlag Berlin, 1955, S.158-160.)