Herausbildung der wissenschaftliche Revolutionstheorie der Arbeiterklasse

Die Idealismuskritik in Marx’ „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, Keime des historischen Materialismus und der Revolutionstheorie

von Otto Finger

»Eine wesentliche Vertiefung der bislang erwähnten Keime des materialistischen Geschichtsdenkens geschieht in Marx’ „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ aus dem Jahre 1843.

Politisch auf die Kritik der Hegelschen antidemokratischen Apologie der konstitutionellen Monarchie und des preußischen Staates abzielend, bewegt sich dieses Fragment nach seiner philosophischen Seite um die Entlarvung charakteristisch idealistischer Verkehrungen der gesellschaftlichen Realität. –

Die materialistische Antwort auf die Grundfrage der Philosophie, die Behauptung des Primats materieller Verhältnisse vor ideellen Verhältnissen erweist sich als der entscheidende weltanschauliche Ausgangspunkt der Marxschen Kritiken an Hegels Auffassungen über das Wesen des Staates, das Verhältnis des Staates zur bürgerlichen Gesellschaft, zum Privateigentum und zur Familie, auch an Hegels Anschauungen über Wesen und gesellschaftliche Rolle des Monarchen, der Fürsten, des Adels, der Stände, der unterschiedlichen sozialen Gruppen der bürgerlichen Gesellschaft, der Staatsverfassung.

Für die Genesis der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie erbringen diese Kritiken vor allem drei wichtige Resultate. Erstens: Die bestimmenden Verhältnisse im Staate sind nicht ideeller, sondern materiell-gegenständlicher Natur. Hierzu wird sich für den Aufbau der Revolutionstheorie dies ergeben: Was primär umzuwälzen ist, sind die herrschenden materiellen Verhältnisse. Zweitens: Jeder Staat beruht auf dem Privateigentum – es bestimmt den Staat und nicht umgekehrt. Drittens: Der bürgerliche Staat ist unfähig, die sozialen Widersprüche aufzuheben.

Diese Resultate fußen noch nicht auf der Grundlage einer ökonomischen Analyse der sozialen Beziehungen. Vielmehr sind es Resultate des beginnenden Einsatzes von Grundpositionen des Feuerbachschen Materialismus in die Untersuchung sozialtheoretischer Fragen. Und es sind ferner Ergebnisse der politischen, revolutionär-demokratischen, ja teils bereits der hierüber hinausweisenden Kritik [1/19] am Konservatismus der Hegelschen Begriffsdialektik in Sachen Staat und Recht. Karl Marx bringt gegen die Hegelsche Auflösung des Menschen und menschlicher Verhältnisse in begriffliche Prozesse den Standpunkt vom Menschen als einem gegenständlichen Wesen zur Geltung, dessen soziales Dasein darum nicht in die Daseinsweise einer Idee verkehrt werden darf.

Karl Marx stellt so durchgängig die Frage nach dem wirklichen Subjekt, den wirklichen Akteuren staatlicher, politischer, gesellschaftlicher Vorgänge. Karl Marx gelangt zu dem Resultat, dass Hegel die „Sozietät“ nicht zum „wirklichen Bestimmen“ kommen lässt, weil dazu ein „wirkliches Subjekt“ nötig ist. Hegel hat aber nur ein abstraktes, eine „Imagination“, ein bloß spekulativ-idealistisch vorgestelltes Subjekt. [2/20]

In Hegels Rechtsphilosophie wird der Staat als „wirkliche Idee“, als „Geist“ zum tätigen Subjekt, das sich in zwei „ideelle Sphären seines Begriffs“, in die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, scheidet. Marx kritisiert diesen idealistischen und zugleich reaktionären Standpunkt – wonach der feudalabsolutistische Staat als ein „höheres Prinzip“ gegenüber der Gesellschaft angebetet wird –, als in doppelter Hinsicht merkwürdig: 1. Betont Marx, werden Familie und bürgerliche Gesellschaft als bloße Begriffssphären gefasst und 2. der Staat als Idee so dargestellt, als ob er nach einem bestimmten Prinzip und mit bestimmter Absicht handle. Karl Marx nennt dies einen „logische(n), pantheistische(n) Mystizismus“, d. h. eine solche Verkehrung der Realität, dass sie selbst zur begrifflichen Wirklichkeit wird und alle ihre wirklichen Prozesse Resultat der mystischen Schöpferkraft der Idee sind. –

Die wirklichen Verhältnisse sinken zur Erscheinung herab, zur Erscheinung einer Vermittlung, welche die wirkliche Idee mit sich selber vornimmt und welche hinter der Gardine vorgeht. Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen. Die wirkliche Empirie hat nicht ihren eigenen Geist, sondern einen fremden zum Gesetz, …“ [3/21] –

Es passiert hierbei nach Marx eine „Versubjektivierung“ der Idee, d. h. ihre Erhebung zum tätigen Prinzip, dessen „imaginärer Tätigkeit“ die wirklichen Verhältnisse zwischen Familie, Gesellschaft, Staat entspringen sollen. Nach Karl Marx sind aber gerade erstere die „eigentlich Tätigen“ gegenüber dem Staat. Hegels Umkehrung verwandelt das Bedingte, das Bestimmte (den Staat) in die Bedingung, in das Bestimmende: „das Produzierende wird als das Produkt seines Produktes gesetzt.“ [4/22]

Die weltanschauliche und methodische Bedeutung dieser Kritik an Hegels idealistischen Verkehrungen liegt auf der Hand: Erstens attackiert Marx die philosophische Grundidee des ganzen begriffsdialektischen Idealismus, die Anschauung nämlich von der Idee als tätiger, bestimmender, schöpferischer Substanz, der gegenüber die Realität als ihr Abgeleitetes erscheint. Tatsächlich entlarvt hier Marx schon eine Grundoperation jedes Idealismus: Trennung des Begriffs, des begrifflich Allgemeinen von dem real Konkreten, dessen Begriff es ist, und Verwandlung des so gewonnenen selbständigen Begriffs in den Schöpfer der Realität. Und Marx enthüllt anlässlich der Hegelschen rechtsphilosophischen Explikation dieses Idealismus eine seiner reaktionären ideologischen Grundfunktionen: das zum Begriff mystifizierte – im vorliegenden Falle der absolutistische Staat – wird dem praktisch-politischen und revolutionären Zugriff entzogen. Zweitens deutet sich ein von Marx später näher begründetes und angewendetes elementares methodisches Prinzip auch jeder gesellschaftswissenschaftlichen – nicht bloß naturwissenschaftlichen – Analyse an: Aus der „gewöhnlichen Empirie“ muss ihr „Geist“ als ihr eigenes Gesetz entwickelt werden. Es ist das materialistische Methodenprinzip, das von der Sache zu ihrem Begriff, vom wirklichen, empirisch gegebenen Verhältnis zu ihrem Gesetz vordringt.

Bei Hegel wird das Empirische zum Substrat der Spekulationen: Marx zeigt, wie bei Hegel, – weil er „die Lebensgeschichte der abstrakten Substanz, der Idee, schreiben will“, weil Hegel die menschliche Tätigkeit als Tätigkeit und Resultat eines andern erscheinen lässt, weil er schließlich „das Wesen des Menschen für sich, als eine imaginäre Einzelheit, statt in seiner wirklichen, menschlichen Existenz wirken lassen“ will – Marx zeigt, wie bei Hegel im Gefolge dieser spekulativen Tendenz „unkritischerweise eine empirische Existenz als die wirkliche Wahrheit der Idee genommen wird.“ [5/23] Also wie etwa in der Geburt des Fürsten die Staatsidee unmittelbar geboren wird, „sich selbst zum empirischen Dasein herausgeboren hat.“ [6/24]

In diesem Zusammenhang finden sich dann auch die ersten Ansätze, um mit Feuerbachs anthropologischem Prinzip, seiner Lehre vom Menschen als dem höchsten Wesen für den Menschen, sozialtheoretisch gegen den Idealismus zu argumentieren. Selbstredend kommt dabei noch kein historischer Materialismus heraus, der weder aus dem Begriff vom Menschen als Naturwesen, noch aus dem Begriff vom Menschen als geistig aktivem Subjekt gewonnen werden kann, der überhaupt nicht von diesem oder jenem Mensch-Begriff, sondern von gesellschaftlicher Produktion ausgeht. Aber gerade dem Gewinnen der so bestimmten Auffassung vom Wesen gesellschaftlicher Entwicklung wird dadurch vorgearbeitet, dass sie aus dem wirklichen gesellschaftlichen Menschen und nicht aus der Staatsidee begründet wird. –

Gegen Hegel fordert Marx, „… bei der Entwicklung von Familie, bürgerlicher Gesellschaft, Staat etc. diese sozialen Existenzialweisen des Menschen als Verwirklichung, Verobjektivierung seines Wesens“ zu betrachten. [7/25] Worauf die „sozialen Existenzialwesen“ des Menschen beruhen, in welchem Sinne sie als „Verobjektivierung“ seines Wesens zu verstehen sind, entwickelt Marx seit den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ und in theoretisch abgeschlossener Gestalt im „Kapital“ aus der gesellschaftlichen Produktionstätigkeit.

Wir erwähnen hier abschließend noch dieses für die Revolutionstheorie wichtige Ergebnis der Marxschen Kritik an den spekulativen Verkehrungen der Hegelschen Rechtsphilosophie: Die objektive Grundlage von Staat und Recht bildet das Privateigentum. Zu einem unmittelbaren Element der Revolutionstheorie wird diese Einsicht, nachdem Marx klärt (beginnend mit den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“), inwiefern in den Eigentumsverhältnissen Klassenbeziehungen vorgezeichnet sind und die Klassenkämpfe daher nicht außerhalb dieser Verhältnisse begriffen werden können.

Unsere vorstehenden Bemerkungen können weder beanspruchen, den Umfang auch nur der wesentlichsten philosophischen Erkenntnisfortschritte Marx’ von der Doktordissertation aus dem Jahre 1841 bis zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts von 1843 sichtbar gemacht, noch das Ganze der objektiven Bedingungen und subjektiven Faktoren dieser Entwicklung charakterisiert zu haben. Uns ging es hier nur darum, einen wesentlichen Tatbestand in diesem vielschichtigen Prozess zu belegen: Er kann nicht außerhalb der Herausbildung erster Ansätze eines materialistischen Herangehens an gesellschaftliche Fragen begriffen werden. Dass der Materialismus seit der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ die entscheidende weltanschaulich-philosophische Grundlage der wissenschaftlichen Revolutionstheorie bildet, wollen wir nachfolgend skizzieren. Die Versuche, den Materialismus aus dieser seiner dominierenden Stellung herauszudrängen oder im Frühwerk gänzlich zu leugnen, stellen sich daher als eine spätbürgerliche und revisionistische Fälschung dar, die die Wissenschaftlichkeit, die weltanschauliche Geschlossenheit und den proletarisch-parteilichen Kern dieser Theorie gleichermaßen unterhöhlen wollen.«

Anmerkungen

1/19 »T. I. Oiserman verweist darauf, dass in dem Fragment die sozialistische Idee von der Abschaffung des Privateigentums aufzukeimen beginnt, aber noch nicht deutlich von der bürgerlich-demokratischen Idee unterschieden ist, dass alle feudalen Privilegien abgeschafft werden müssen. (Vgl. T. I. Oiserman, Die Entstehung der marxistischen Philosophie, S. 188).«

2/20 Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, S. 327.

3/21 Ebenda, S. 206.

4/22 Ebenda, S. 207.

5/23 Ebenda, S. 240f.

6/24 Ebenda.

7/25 Ebenda (Hervorhebung von O. F.).

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 3.3. Die Idealismuskritik in Marx’ „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, Keime des historischen Materialismus und der Revolutionstheorie, in: 3. Kapitel: Philosophischer Materialismus und Herausbildung der wissenschaftlichen Revolutionstheorie der Arbeiterklasse.

21.03.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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