Die Hegemonie der Arbeiterklasse
Zur Weiterentwicklung der Theorie der sozialistischen Revolution in Lenins Arbeit „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“
Von Otto Finger
Wir beschließen die Darstellung von Knotenpunkten im Prozess der Herausbildung der spezifisch leninistischen Etappe des revolutionären Denkens mit dem Hinweis auf einige theoretische und politisch-ideologische Grundfragen der am Beginn der Revolution von 1905 abgefassten Schrift. Sie vollendet das Leninsche Programm des Parteiaufbaus nach der Seite ihrer revolutionären Strategie unter den neuen Bedingungen. Diese Arbeit stellt eine entscheidende Bereicherung der Lehre von der Partei und der Revolution dar, weil sie Besonderheiten und Triebkräfte der bürgerlich-demokratischen Revolution unter imperialistischen Bedingungen formuliert. Die in ihr entwickelten Prinzipien haben sich nicht bloß in der Vorbereitung der Oktoberrevolution, sondern auch in der Durchführung der sozialistischen Revolutionen nach dem 2. Weltkrieg bewährt.
Sie stellen insbesondere eine Konkretisierung jener revolutionstheoretischen Grundsätze dar, die Marx und Engels bei der Verallgemeinerung der Erfahrungen der Revolution von 1848 begründet hatten. Darunter Grundsätze der Bündnispolitik der Arbeiterklasse – speziell ihres Verhältnisses zur Bauernschaft –, der Überführung der bürgerlich-demokratischen in die sozialistische Umwälzung, also des bekannten Prinzips der Permanenz der Revolution, Grundsätze für die Entscheidung der Machtfrage in der Revolution, für die Eroberung der Diktatur des Proletariats.
Die Leninsche Weiterentwicklung der Marxschen und Engelsschen Erkenntnisse in diesen Fragen hat generell zur Voraussetzung den riesigen historischen Erfahrungsschatz der revolutionären Arbeiterbewegung in Westeuropa, darunter der Pariser Kommune, spezieller aber die Ergebnisse der russischen revolutionären Bewegung. Lenin bringt die Erfahrungen des antizaristischen Kampfes seit dem letzten Drittel des 19. Jhs., die Erfahrungen der marxistischen Arbeiterbewegung in Russland, die Analyse der sozialökonomischen Entwicklung und der Klassenkämpfe im Russland der herannahenden Revolution auf den theoretischen Begriff.
Der Kampf gegen den Opportunismus spitzt sich nun auf die strategischen und unmittelbar praktischen und taktischen Fragen der Vorbereitung der Arbeiterpartei auf die Meisterung einer revolutionären Situation, auf die Entscheidung der Machtfrage zugunsten des Proletariats zu. Die materialistisch-dialektische Methode wird von Lenin als Waffe in diesem antiopportunistischen Kampf und bei der Ausarbeitung der revolutionären Strategie und Taktik angewandt und konkretisiert. Zugleich erfährt dabei eine für die Leninsche theoretische Arbeit von Anbeginn charakteristische Frage, nämlich die nach der Dialektik von objektiven Bedingungen und subjektiven Faktoren, eine nähere Ausführung. In den Umkreis der von Lenin in dieser Periode des revolutionären Aufschwungs im Geiste der materialistischen Dialektik ausgearbeiteten philosophisch-theoretischen Fragen zählen die nach dem Verhältnis von materiellen und ideellen Prozessen, Theorie und Praxis, von Revolutionen und Ideologie, Klassenkampf und Überbau, nach dem Charakter historischer Alternativen. Hervorgehoben sei schließlich, dass Lenin zu politischen Grundbegriffen Stellung nimmt, die in jedem revolutionären Prozess – seiner praktischen und ideologischen Seite – eine herausragende Rolle spielen: Fortschritt und Revolution, Freiheit und Gewalt, Demokratie und Diktatur, Volk und Klasse.
Lenin geht bei der Analyse aller konkreten Fragen der Politik der Arbeiterpartei in der Revolution von der historisch-materialistischen Bestimmung ihres Wesens aus. Auf die Frage, was denn Revolution vom marxistischen Standpunkt aus sei, antwortet Lenin:
„Gewaltsame Zerstörung des überlebten politischen Überbaus, dessen Widerspruch zu den neuen Produktionsverhältnissen in einem bestimmten Zeitpunkt zu seinem Zusammenbruch geführt hat.“ [1/142] –
Lenin definiert damit das Wesen der politischen Revolution als eines bestimmten Moments, als eines Kulminationspunktes der sozialen Revolution, der Ersetzung einer Gesellschaftsformation durch einen höhere. Die politische Revolution ist also nach Lenin nichts anderes als die gewaltsame Zerstörung des politischen Überbaus. Um eben diese Notwendigkeit, den alten zaristischen Überbau zu zerstören, handelte es sich in der russischen Revolution von 1905:
„Der Widerspruch der Selbstherrschaft zur ganzen Struktur des kapitalistischen Russlands, zu allen Erfordernissen seiner bürgerlich-demokratischen Entwicklung, hat jetzt zu einem um so stärkeren Zusammenbruch geführt, je länger dieser Widerspruch künstlich aufrechterhalten worden ist. Der Überbau kracht in allen Fugen, hält dem Ansturm nicht stand, verliert seinen Halt. Das Volk muss sich selbst durch die Vertreter der verschiedensten Klassen und Gruppen einen neuen Überbau schaffen.“ [2/143] –
Kurz, in Russland bestand in dem Sinne eine revolutionäre Situation, eine Zuspitzung der Widersprüche zwischen Basis und Überbau, zwischen Volk und reaktionärer Regierung, wie sie Lenin später, in der Arbeit über den „Linken Radikalismus“ geradezu als „Grundgesetz der Revolution“ zusammengefasst hat: Die ausgebeuteten und unterdrückten Massen fordern eine Änderung, weil sie die Unmöglichkeit erkennen, in der alten Weise weiterzuleben. Aber das allein genügt nicht. Es muss hinzukommen, dass die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise regieren können. –
Wenn beides eintritt, dass also die unterdrückten „,Unterschichten’ das Alte nicht mehr wollen und die ,Oberschichten’ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen“ [3/144]. Lenin fasst im gleichen Kontext diese Situation auch in den Begriff „gesamtnationale Krise“, eine Krise, die Ausgebeutete wie Ausbeuter ergreift.
Es kam nun darauf an, festzulegen, wie die Chance für den Sieg der Revolution genutzt werden konnte, über welche Etappenziele das sozialistische Ziel anzustreben sei, welche Bündnispolitik betrieben werden musste, welche politische Herrschaftsform unter den konkreten Bedingungen, angesichts des konkreten sozialökonomischen Entwicklungsstandes und der Reife der politisch handelnden Klassenkräfte erkämpft werden konnte.
Lenin tritt uns in der Arbeit über die „Zwei Taktiken“ von Anbeginn als politischer Parteiführer und Theoretiker entgegen. Er verschmilzt in diesem Werk Philosophie und Politik in einer für den gesamten Leninismus und für die gesamte Bewegung des Bolschewismus prototypischen Weise: Nicht nur geht Lenin an die Analyse der Bewegung als dialektischer Materialist heran und gewinnt so wissenschaftliche Resultate. Der dialektische Materialismus als Methode des Denkens springt in praktisches Verhalten um. Auch und nicht zuletzt dergestalt, dass Lenin alle in den bisher untersuchten Arbeiten entwickelten Erkenntnisse über die Rolle des subjektiven Faktors und der Bewusstheit einmünden lässt in die folgende Frage, die zugleich leninistische Norm revolutionären Verhaltens ist: „… für die kämpfende politische Partei steht jetzt die Frage so: Werden wir die Revolution etwas lehren können?“ Ehe Lenin diese Frage stellt, hat er erklärt, dass die Revolution das Bewusstsein formieren wird, dass sie den revolutionären Massen und ihren Führern Lehren erteilen wird. Und Revolutionen sind Perioden, in welchen soziale und politische Lernprozesse besonders rasch und gründlich geschehen. Lenin erwartet von der Revolution, dass sie die Erkenntnis des Klassenwesens der Gesellschaftsvorgänge und des Charakters der verschiedenen Gesellschaftsklassen enthüllen wird. –
Die Klassen werden aus der politischen Feuertaufe der Revolution „mit einer bestimmten politischen Physiognomie“ hervorgehen: Ihre Programme und die Losungen müssen nun in der offenen politischen Aktion ihr Wesen enthüllen. –
Dies alles, die Tatsache, dass die Revolution politische Erkenntnis- und Enthüllungsvorgänge in Gang setzt, ist aber für den dialektischen Materialisten Lenin nur die eine Seite der Sache. Ebenso – und das ist gerade für die Partei als die führende politische Kraft der revolutionären Bewegung entscheidend – schließt dieser Standpunkt materialistischer Dialektik die aktive, bewusste Einwirkung auf den Gang der Ereignisse ein. –
Konkreter versteht Lenin unter der Aufgabe, die Revolution etwas „lehren“ zu können das folgende: Es gilt, der Revolution den „proletarischen Stempel aufzudrücken“. Nur dadurch kann die bürgerlich-demokratische Revolution unter imperialistischen Bedingungen „zum wirklich entscheidenden Sieg“ geführt werden. Nur dadurch, dass das Proletariat die bestimmende Rolle spielt, den revolutionären Entwicklungsgang prägt, ist es möglich, „die Wankelmütigkeit, die Halbschlächtigkeit und den Verrat der demokratischen Bourgeoisie“ zu paralysieren. Damit aber der Revolution ein proletarischer Stempel aufgedrückt werden kann – in der gleichen Arbeit begründet Lenin dies des Näheren als die Frage nach der Hegemonie der nArbeiterklasse in der bürgerlich-demokratischen Revolution –, dazu ist es notwendig, dass die revolutionäre proletarische Partei ihre wissenschaftlich marxistische Theorie richtig anwendet. Lenin stellt deshalb die Frage: „Werden wir von der Richtigkeit unserer sozialdemokratischen Lehre und von unserer Verbindung mit der einzigen bis zu Ende revolutionären Klasse, dem Proletariat, so Gebrauch machen können“, dass die genannten Ziele erreicht werden? [5/146] Damit eine revolutionäre Partei eine revolutionäre Situation meistert, ist also beides notwendig: Sowohl die Wappnung mit der Theorie und deren richtige Anwendung als auch die Verbundenheit mit der Arbeiterklasse.
Die marxistische Theorie musste jetzt eingesetzt werden, nicht nur, um die übliche Alltagsarbeit der Partei zu leisten, die Festigung der Verbindung mit den Massen durch die richtige Agitation, die Propaganda, die organisatorische Tätigkeit. Jetzt kam es darauf an, die Entscheidung über den Platz der Arbeiterklasse in der Revolution zu fällen, den Schwerpunkt aller, der organisatorischen wie der ideologischen Arbeit, festzulegen. Die Alternative hierfür laute: Sollte der Schwerpunkt in den Gewerkschaften und den legalen Organisationen liegen „oder im bewaffneten Aufstand, in der Schaffung einer revolutionären Armee und einer revolutionären Regierung?“ [6/147] Die Entscheidung dieser Frage musste auch darüber entscheiden, wie die Revolution überhaupt ausgehen würde. Denn, betont Lenin, der Ausgang der Revolution hängt davon ab, „ob die Arbeiterklasse als Handlanger der Bourgeoisie, der in seiner Stoßkraft gegen die Selbstherrschaft zwar mächtig, politisch aber ohnmächtig ist, oder als Führer der Volksrevolution auftreten wird“ [7/148].
Um diese Frage zu beantworten, musste Lenin den besonderen Charakter der russischen Revolution von 1905 herausarbeiten und die revolutionäre marxistische Strategie gegen den Opportunismus der Menschewiki und gegen anarchistisches Abenteurertum verteidigen. Aus beiden, der Analyse der historischen Lage und dem Kampf gegen den „linken“ wie rechten Opportunismus erwuchs die Weiterentwicklung des revolutions-theoretischen Denkens durch Lenin.
Lenin arbeitete solche Besonderheiten der ersten russischen Revolution heraus wie die folgenden:
• Sie war eine Volksrevolution: Obzwar ihrem Charakter nach eine bürgerlich-demokratische Bewegung, wirkten die proletarischen Massen als ihre Haupttriebkraft.
• Sie war eine Bauernrevolution: die Beseitigung des halbfeudalen Großgrundbesitzes war eine ihrer Hauptaufgaben.
• Sie war eine Revolution, in der die Bourgeoisie selbst keine revolutionäre Kraft mehr entfaltete: Die Wucht des revolutionären Ansturms ihres Totengräbers, des Proletariats, bewirkte den Verrat an ihren ureigenen bürgerlichen Interessen, Bündnisse mit dem Zarismus und schließlich, direkte konterrevolutionäre Aktivität.
Aus den gegebenen objektiven und subjektiven Bedingungen zieht Lenin den Schluss, dass in dieser Revolution noch nicht die vollständige, sozialistische Umwälzung auf der Tagesordnung steht. In ihr kann noch nicht die unmittelbare Verwirklichung des Maximalprogramms der Partei der Arbeiterklasse, nämlich die „Eroberung der Macht zum Zwecke der sozialistischen Umwälzung“ angestrebt werden. Dies wäre nicht bloß naiver Optimismus, sondern eine geradezu „unsinnige, halbanarchistische Idee“. Unsinnig, naiv, anarchistisch aber gerade deshalb, weil sie sowohl die objektiven wie die subjektiven Bedingungen und auch deren unauflöslichen Zusammenhang außer acht lässt: „Der Grad der ökonomischen Entwicklung Russlands (die objektive Bedingung) und der Grad des Klassenbewusstseins und der Organisiertheit der breiten Massen des Proletariats (die subjektive Bedingung, die mit der objektiven unlöslich verbunden ist) machen eine sofortige vollständige Befreiung der Arbeiterklasse unmöglich.“ [8/149] Weil, so argumentiert Lenin im gleichen Zusammenhang, die Arbeiter sich nur selbst befreien können, weil sie für diese revolutionäre Selbstbefreiung Klassenbewusstsein und Organisiertheit brauchen, weil sie durch den offenen Klassenkampf gegen die gesamte Bourgeoisie erst noch geschult und erzogen werden müssen, deshalb kann am Anfang all dieser Prozesse nicht von einer sozialistischen Revolution die Rede sein. Dieser Realismus, dieser Verzicht auf revolutionäre Phrasen hat nichts mit dem Hinausschieben der sozialistischen Umwälzung gemein. Vielmehr können die notwendigen Schritte in Richtung auf die sozialistische Umwälzung nur in der Errichtung der demokratischen Republik liegen. Lenins Konzept lautet: Durch möglichst vollständige demokratische Umgestaltungen hin zur sozialistischen Umwälzung. Anders als auf dem Wege des politischen Demokratismus zum Sozialismus gelangen zu wollen, bedeutet nach Lenin, sowohl zu ökonomisch wie auch politisch absurden und reaktionären Konsequenzen zu gelangen. [9/150]
Gegen die abstrakte revolutionäre Phrasendrescherei, gegen leeres Gerede von der Notwendigkeit der Revolution schlechtweg betont Lenin als konkrete Aufgabe der ideologischen Führungstätigkeit der Partei, zu bestimmen, „welche Klassen den neuen Überbau errichten und wie sie das tun sollen.“ [10/151]
Klassenbasis, Charakter und Methode der Durchführung der gemäß den gegebenen objektiven Bedingungen und subjektiven Faktoren anzustrebenden revolutionären Umwälzung fasst Lenin in der Losung zusammen:
„… demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Diese Losung bestimmt sowohl jene Klassen, auf die sich die neuen ,Erbauer’ des neuen Überbaus stützen können und müssen, als auch dessen Charakter (,demokratische’ Diktatur zum Unterschied von der sozialistischen) und die Methode des Aufbaus (Diktatur, d. h. gewaltsame Unterdrückung des gewaltsamen Widerstands, Bewaffnung der revolutionären Klassen des Volkes).“ [11/152]
Der Kampf für eine demokratische Republik kann nicht gelingen, wenn er sich nicht außer auf das Proletariat auch auf die Bauernschaft stützt. Die Bauernschaft hat gegen den Großgrundbesitz und in Übereinstimmung mit dem Proletariat ein objektives Interesse an demokratischenUmgestaltungen. –
Diese Leninsche Konzeption – ist gültig auch für die Bündnispolitik unter Bedingungen des antiimperialistischen Kampfes. Das Bündnis der Arbeiterklasse mit nichtproletarischen werktätigen Schichten ist gesetzmäßig und notwendig für die Durchsetzung konsequent bürgerlich-demokratischer Umwälzungen und auch für deren Vorwärtstreiben zur sozialistischen Revolution. {…}
Zwischen konsequenter bürgerlich-demokratischer und sozialistischer Revolution bestehen, wie Lenin betont, Verflechtungen. Die revolutionäre-demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern hat eine Vergangenheit und eine Zukunft. Feudalismus und Monarchie sind ihre Vergangenheit. Im Kampf gegen alle Reste des Mittelalterlichen im zaristischen Russland – und gegen den Imperialismus der Gegenwart – gibt es eine Einheit des Willens, weil Interessenübereinstimmung zwischen Proletariat und Bauernschaft; es ist ein Kampf des ganzen Volkes gegen die Reaktion. –
Die Zukunft der revolutionär-demokratischen Diktatur, das ist „der Kampf gegen das Privateigentum, der Kampf des Lohnarbeiters gegen den Unternehmer, der Kampf für den Sozialismus. Hier ist ein einheitlicher Wille unmöglich. Hier liegt vor uns nicht der Weg von der Selbstherrschaft zur Republik, sondern der Weg von der kleinbürgerlichen demokratischen Republik zum Sozialismus. In der konkreten historischen Situation verflechten sich freilich die Elemente der Vergangenheit und der Zukunft, der eine Weg geht in den anderen über. Die Lohnarbeit und ihren Kampf gegen das Privateigentum gibt es auch unter der Selbstherrschaft, sie entsteht in ihrer Keimform sogar unter der Leibeigenschaft. Das hindert uns jedoch keineswegs, die großen Entwicklungsperioden logisch und historisch voneinander zu scheiden. Wir alle stellen ja die bürgerliche Revolution der sozialistischen gegenüber, wir alle bestehen unbedingt auf der Notwendigkeit, strengstens zwischen ihnen zu unterscheiden, aber kann man denn leugnen, dass sich in der Geschichte einzelne Teilelemente der einen und der anderen Umwälzung miteinander verflechten?“ [12/153] –
Lenin untersucht so den revolutionären Prozess in der Einheit, im inneren Zusammenhang und im Widerspruch seiner wesentlichen Etappen und unterschiedlichen Seiten. Genau dieses dialektische Vereinigen des Kontinuierlichen mit dem Diskontinuierlichen, dieses Erfassen der Einheit und des Kampfes seiner widersprechenden Seiten bei Herausarbeiten der letztendlich dominierenden Rolle des Kampfes der Gegensätze ist die notwendige philosophische Voraussetzung für die charakteristische Leninsche Festlegung der strategischen und taktischen Linie. –
Die dialektische Denkmethode erweist sich als die adäquate Methode, um die objektiv widerspruchsvollen Momente auch innerhalb des gemeinschaftlichen Kampfes aller Volkskräfte gegen den gemeinsamen reaktionären Feind zu erfassen.
Es wäre reaktionär, die revolutionär-demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern als Aufgabe des Kampfes der Sozialisten unter den gegebenen Bedingungen zu ignorieren. Es hieße den Sozialismus selbst zu verraten, wenn diese seine politische Voraussetzung oder gar der Kampf gegen die Selbstherrschaft vernachlässigt würde. Aber sie muss zugleich als nur vorübergehende, zeitweilige Etappe begriffen werden. Gerade weil das so ist, darf der revolutionäre Marxist und Sozialist „den unvermeidlichen Klassenkampf des Proletariats für den Sozialismus gegen die Bourgeoisie und die Kleinbourgeoisie, mögen sie noch so demokratisch und republikanisch sein, nie und nimmer vergessen“ [13/154].«
Niemals darf Bündnispolitik verwechselt werden mit Preisgabe des sozialistischen und kommunistischen Ziels
»Niemals also – dies betont Lenin hier und auch später in allen Fragen sowohl des antizaristischen wie auch des antiimperialistischen Kampfes – darf Bündnispolitik der Arbeiterklasse verwechselt werden mit Preisgabe ihres sozialistischen und kommunistischen Ziels. Und niemals darf hierbei die organisatorische und ideologische Selbständigkeit der Arbeiterpartei aufs Spiel gesetzt werden. –
Erfolgreiche Bündnispolitik als Bestandteil des sozialistisch-revolutionären Kampfes der Arbeiterbewegung bedingt vielmehr, „dass eine besondere, selbständige, streng auf dem Klassenprinzip aufgebaute Partei der [revolutionären] Sozialdemokratie unbedingt notwendig ist“ [14/155].
Lenin zieht einen Vergleich zur Französischen Revolution, zum Gegensatz zwischen den Girondisten und den Jakobinern, um den Gegensatz zwischen Opportunisten und den Bolschewiki in den skizzierten Fragen der revolutionären Strategie und Taktik zu verdeutlichen. Die Bolschewiki, das sind die modernen Jakobiner, haben nichts gemein mit jenen Opportunisten, die „mit der Selbstherrschaft auf sanfte, reformerische Art fertig werden (möchten); nachgiebig, ohne der Aristokratie, dem Adel, dem Hof weh zu tun; vorsichtig, ohne etwas zu zerbrechen; liebenswürdig und höflich, vornehm und in Glacéhandschuhen …“ [15/156] –
Lenin verweist auf Marx’ Charakteristik des ganzen französischen Terrorismus in der Revolution von 1789 als einer „plebejischen Manier“, mit den Feinden der Bourgeoisie, dem Absolutismus, dem Feudalismus fertig zu werden. [16/157] Im Russland der revolutionären Massenaktionen von 1905 vertreten die Bolschewiki eine solche Linie, entwickeln sie ein solches Konzept der revolutionär-demokratischen Diktatur, die unter den neuen Bedingungen die proletarische Methode der Beseitigung der reaktionären Verhältnisse anstrebt: „Sie wollen, dass das Volk, d. h. das Proletariat und die Bauernschaft, mit der Monarchie und der Aristokratie auf ,plebejische Manier’ fertig wird, indem es die Feinde der Freiheit schonungslos vernichtet, ihren Widerstand mit Gewalt bricht und dem verfluchten Erbe der Leibeigenschaft, des Asiatentums und der Schändung des Menschen keinerlei Konzessionen macht.“ [17/158] –
Dem reaktionären Gegner einer Volksrevolution, dem kein Mittel zu brutal, zu barbarisch, zu blutig und gewalttätig ist, um seine überlebte Herrschaft zu sichern, kann nicht mit sanftmütigen Reformvorschlägen begegnet werden, um eine historisch herangereifte Umwälzung durchzusetzen.
Damit der antizaristische sowie der bürgerlich-demokratischen Revolution unter imperialistischen Bedingungen überhaupt der „proletarisch-bäuerliche“ Stempel, das Gepräge eines konsequenten Demokratismus aufgedrückt wird, muss die Arbeiterklasse der Hegemon der Bewegung sein, muss sie die Führungsrolle übernehmen. Das aber kann sie nur, wenn sie genügend Klassenbewusstsein und organisierte Kampfkraft besitzt. Genau diese Eigenschaften bilden sich in der Arbeiterklasse nicht aus der Spontaneität, sondern im Ergebnis der Führungstätigkeit der Partei heraus.
Die Hegemonie der Arbeiterklasse – und nicht der liberalen Bourgeoisie – auch in der bürgerlich-demokratischen Revolution und die Notwendigkeit der Errichtung der revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern ergibt sich aus den objektiven Klassenverhältnissen und Klasseninteressen. Die Großbourgeoisie, die Gutsbesitzer, die Fabrikanten und, wie Lenin hinzufügt, die ganze „gute Gesellschaft“, auf die sich die bürgerlich-liberale Bewegung stützt, können nicht die Kräfte sein, die einen konsequenten Kampf gegen den Zarismus führen. Privateigentum, Kapital, Grund und Boden sind „ein viel zu schweres Bleigewicht an ihren Füßen, als dass sie einen entschlossenen Kampf führen könnten. Sie brauchen viel zu sehr den Zarismus, seine polizeilich-bürokratischen und militärischen Kräfte gegen das Proletariat und die Bauernschaft, als dass sie die Vernichtung des Zarismus anstreben könnten.“ [18/159] –
Der Widerstand des Großbürgertums und des Großgrundbesitzes gegen die Durchsetzung der Lebensinteressen der Arbeiter und Bauern und all ihre konterrevolutionäre Aktivität kann nur mittels der revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern gebrochen werden. Diese Diktatur muss sich auf den bewaffneten Aufstand und die militärische Gewalt stützen. Und nur das klassenbewusste Proletariat ist fähig, das revolutionäre Bewusstsein der Bauern zu mobilisieren und ihren revolutionären Ansturm gegen die Selbstherrschaft zu leiten.
Die Hegemonie des Proletariats in der bürgerlich-demokratischen Revolution und die bündnispolitischen Grundsätze für den Übergang zur sozialistischen fasst Lenin so zusammen:
„Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand der Selbstherrschaft mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren. Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollbringen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung an sich heranzieht, um den Widerstand der Bourgeoisie mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren.“ [19/160]
Es handelt sich zunächst um eine demokratische und noch keine sozialistische Diktatur. Die revolutionäre Diktatur der Arbeiter und Bauern „wird (ohne eine ganze Reihe Zwischenstufen der revolutionären Entwicklung) nicht imstande sein, die Grundlagen des Kapitalismus anzutasten. Sie wird im besten Fall imstande sein, eine radikale Neuverteilung des Grundeigentums zugunsten der Bauernschaft vorzunehmen, einen konsequenten und vollen Demokratismus bis zur Errichtung der Republik durchzuführen, alle asiatischen Wesenszüge und Knechtschaftsverhältnisse im Leben nicht nur des Dorfes, sondern auch der Fabrik auszumerzen, für eine ernsthafte Verbesserung der Lage der Arbeiter, für die Hebung ihrer Lebenshaltung den Grund zu legen und schließlich, last not least, den revolutionären Brand nach Europa zu tragen. Ein solcher Sieg wird aus unserer bürgerlichen Revolution noch keineswegs eine sozialistische machen; die demokratische Umwälzung wird über den Rahmen der bürgerlichen ngesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse nicht unmittelbar hinausgehen; aber nichtsdestoweniger wird die Bedeutung eines solchen Sieges für die künftige Entwicklung sowohl Russlands als auch der ganzen Welt gigantisch sein. Nichts wird die revolutionäre Energie des Weltproletariats so sehr steigern, nichts wird den Weg, der zu seinem vollen Sieg führt, so sehr abkürzen wie dieser entscheidende Sieg der in Russland begonnenen Revolution.“ [20/161]
Lenin vertritt alles andere als einen oberflächlichen Optimismus, was den zu erwartenden Ausgang der Revolution betrifft. Nicht im entferntesten baut er auf einen solchen Automatismus der revolutionären Ereignisse, dass aus der gesetzmäßig notwendigen Überwindung des Zarismus ohne weiteres auch dessen revolutionärer Sturz zu erwarten wäre. Er warnt vor unbesonnenem Optimismus, betont immer wieder die unerhörte Schwierigkeit, die zielstrebige revolutionäre Aktivität der Massen zu organisieren. Der Ausgang der Revolution lässt sich nicht mittels eines sozialtheoretischen Einmaleins vorausberechnen. Es können Aussagen über wahrscheinliche Entwicklungen, über gegebene und künftige Tendenzen gemacht werden. –
Es ist unmöglich, absolut gewisse Aussagen über Eintritt und Folgen dieses oder jenes konkreten Ereignisses in einem revolutionären Prozess zu machen. –
„Der Aufstand, und zwar ein unvorbereiteter, spontaner und zersplitterter Aufstand, hat schon begonnen. Niemand kann sich unbedingt verbürgen, dass er bis zum umfassenden und einheitlichen bewaffneten Volksaufstand voranschreiten wird, denn das hängt sowohl vom Zustand der revolutionären Kräfte ab (die man nur im Kampfe selbst ganz ermessen kann) als auch von der Haltung der Regierung und der Bourgeoisie sowie von einer Reihe anderer Umstände, die nicht genau errechnet werden können.“ [21/162] –
Das dialektische Einbegreifen widersprechender Tendenzen und Entwicklungsmöglichkeiten in die Bestimmung der revolutionären Strategie akzentuiert sich im Aufweis zweier grundlegender Möglichkeiten, im Herausarbeiten einer konkret-historischen Alternativsituation:
„Es gibt keine Kraft auf Erden, die eine solche Umgestaltung verhindern könnte. Aber aus dem Zusammenwirken der vorhandenen Kräfte, die diese Umgestaltung hervorbringen, können sich zweierlei Resultate oder zweierlei Formen dieser Umgestaltung ergeben. Eines von beiden: 1. Entweder endet das Ganze mit einem ,entscheidenden Sieg der Revolution über den Zarismus’ oder 2. Die Kräfte reichen für einen entscheidenden Sieg nicht aus, und das Ganze endet mit einem Pakt zwischen dem Zarismus und den ,inkonsequentesten’ und ,eigennützigsten’ Elementen der Bourgeoisie. All die unendliche Mannigfaltigkeit der Details und Kombinationen, die vorauszusehen niemand imstande ist, reduziert sich im großen und ganzen gerade auf die eine oder die andere dieser zwei Möglichkeiten.“ [22/163]
Gerade aus der materialistisch-dialektischen Einsicht in das objektive Vorhandensein unterschiedlicher und widersprechender Möglichkeiten in konkreten Situationen historisch-revolutionärer Prozesse leitet sich im Marxismus-Leninismus ein nicht fatalistischer, sondern aktivistisches Herangehen an die entscheidenden Fragen ab. –
Lenins „Zwei Taktiken“ sind ein Musterbeispiel hierfür, für die Bestimmung der Rolle des subjektiven Faktors, der Bewusstheit, Organisiertheit, Diszipliniertheit der Bewegung beim Verwandeln einer realen revolutionären Möglichkeit in die Wirklichkeit. –
Und Lenin macht klar, dass Revolutionen die großen geschichtlichen Kristallisationspunkte der Schöpferkräfte des Volkes und der politischen Energie unterdrückter und ausgebeuteter Klassen sind. –
Es ist die Aufgabe der politischen Führer und der Partei der Arbeiterklasse – auch durch ihre ideologische Führungstätigkeit, durch die Verbreitung und Befestigung des wissenschaftlich begründeten Vertrauens in den unabänderlichen Sieg der kommunistischen Ideale – die schöpferischen Kräfte der revolutionär handelnden Volksmassen auf die gesetzmäßig vorgezeichneten Ziele der kommunistischen Bewegung zu lenken:
„Die Revolutionen sind Festtage der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Nie vermag die Volksmasse als ein so aktiver Schöpfer neuer gesellschaftlicher Zustände aufzutreten wie während der Revolution. Gemessen an dem engen, kleinbürgerlichen Maßstab des allmählichen Fortschritts ist das Volk in solchen Zeiten fähig, Wunder zu wirken. Es ist aber notwendig, dass in einer solchen Zeit auch die Führer der revolutionären Parteien ihre Aufgaben breiter und kühner stellen, dass ihre Losungen der revolutionären Initiative der Masse stets vorangehen, ihr als Fanal dienen, unser demokratisches und sozialistisches Ideal in seiner ganzen Erhabenheit und seiner ganzen Schönheit zeigen und den nächsten, den direktesten Weg zum vollen, unbedingten und entscheidenden Sieg weisen.“ [23/164]«
Anmerkungen
1/142 W. I. Lenin, Zwei Taktiken der [revolutionär-emanzipatorischen] Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, in: Werke, Bd. 9, Berlin 1960, S. 118.
2/143 Ebenda, S. 118f.
3/144 W. I. Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Werke, Bd. 31, Berlin 1959, S. 71.
4/145 W. I. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, S. 4.
5/146 Ebenda.
6/147 Ebenda, S. 5.
7/148 Ebenda.
8/149 Ebenda, S. 14.
9/150 Vgl. ebenda, S. 15.
10/151 Ebenda, S. 119.
11/152 Ebenda.
12/153 Ebenda, S. 74.
13/154 Ebenda, S. 75.
14/155 Ebenda.
15/156 Ebenda, S. 46f.
16/157 Vgl. ebenda, S. 46.
17/158 Ebenda, S. 47.
18/159 Ebenda, S. 43.
19/160 Ebenda, S. 90.
r
20/161 Ebenda, S. 44.
21/162 Ebenda, S. 57.
22/163 Ebenda, S. 42f.
23/164 Ebenda, S. 103.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl. 7.14. Zur Weiterentwicklung der Theorie der sozialistischen Revolution in Lenins Arbeit „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.
26.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)