Die Entdeckung der Rolle der werktätigen Volksmassen in der Geschichte

Von Otto Finger

»Einen revolutionstheoretischen Angelpunkt aller bisher behandelten Seiten der Marxschen Kritik an der bürgerlichen Ideologie bildet die theoretische Zerschlagung jener junghegelianischen Vorstellungen, die sich auf das Verhältnis zwischen dem „Geist“ und der „Masse“ beziehen. Marx zeigt: Die junghegelianische wie alle idealistische und theologische Vergeistigung der Geschichte, ihre spekulative Verdünnung zu begrifflich-geistigen Abläufen ist nur philosophischer Ausdruck einer praktisch-sozialen und praktisch politischen Grundtendenz bürgerlichen Denkens als dem Klassenbewusstsein einer ausbeutenden und unterdrückenden Minderheit.

Die entscheidende Einsicht wissenschaftlichen Geschichtsverständnisses wird verfehlt, weil sie im Widerspruch steht zu den Herrschaftsinteressen derjenigen, für deren Existenz als Herrschende, Ausbeutende, Unterdrückende der Fortbestand der Lage der arbeitenden Massen als ohnmächtiges Objekt ihres Handelns notwendige Bedingung ist.

Die Klarstellung der wirklichen Rolle der Volksmassen als der Schöpfer allen materiellen und geistigen Reichtums der Gesellschaft ist eine der entscheidenden theoretischen Leistungen des historischen Materialismus. Der Grundstein für diese Leistung war mit der Entdeckung der geschichtsbildenden Rolle der materiellen Arbeit in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ gelegt worden. In der „Heiligen Familie“ geht es um den Ausbau dieser Einsicht bereits in näheren politischen Bezügen. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Verhältnis Volksmasse-Revolution. –

Obzwar ohne die revolutionäre Aktivität der Massen undenkbar, war die bürgerliche Revolution für die Volksmassen eine durchaus beschränkte Revolution: Sie entsprach den Lebensinteressen, wie Marx sagt, nur einer „exklusiv(en), nicht die Gesamtheit umfassende(n), beschränkte(n) Masse“; der Bourgeoisie. –

Es ist in diesem Sinne eine verfehlte Revolution, keine gründliche Umwälzung, kein Weg zur Herstellung der von den werktätigen Volksmassen ersehnten wirklichen Freiheit und sozialen Gerechtigkeit, „… weil der zahlreichste, der von der Bourgeoisie unterschiedne Teil der Masse in dem Prinzip der Revolution nicht sein wirkliches Interesse, nicht sein eigentümliches revolutionäres Prinzip … besass.“ [1/28]

Bei der Begründung der künftigen, nicht mehr bürgerlich beschränkten Revolution geht es also um das wirkliche Interesse der Volksmassen, um das, wie Marx bei dieser Gelegenheit auch sagt, „wahre Lebensprinzip“ der Volksmassen.

Die junghegelianische Kritik an den bestehenden Verhältnissen befindet sich nun, wie Marx zeigt, gänzlich unter dem Niveau dieser künftigen Revolution, ja, sie erweist sich als gegenrevolutionär, sofern sie nicht nur das politische Klassenbewusstsein jeder Revolution verkennt, sondern eben auch unfähig ist, die Rolle der Volksmassen in der Geschichte und in der Revolution zu begreifen. Insbesondere auch unfähig, die Rolle des materiellen Handelns und der materiellen Gewalt in der Geschichte zu begreifen.

Karl Marx entlarvt die junghegelianische Denkweise als Neuauflage alter spekulativ-idealistischer, selbst teleologischer und theologischer Muster. Marx zitiert eine Passage aus einem Text Bruno Bauers, worin dieser fragt, wozu denn Geschichte da wäre, wenn sie nicht die Aufgabe hätte, Wahrheiten zu beweisen. Hierzu bemerkt Marx, dass in einer trivialisierten Form Hegels spekulative Weisheit wiederholt würde, dass der Mensch und die Geschichte bloß da seien, damit die Wahrheit zum Selbstbewusstsein käme. Die Geschichte verwandelt sich hierbei in eine aparte Person, in ein metaphysisches Subjekt. Die wirklichen menschlichen Individuen wären dann bloß die Träger dieses Subjekts. Die Geschichte wird nun in der junghegelianischen „Kritik“ nicht bloß wie die Wahrheit als „ein ätherisches, von der materiellen Masse getrenntes Subjekt“ betrachtet, [2/29] sondern in ihrer Verfehltheit gerade als Erzeugnis des Gegensatzes zwischen dem „Geist“ und der „Masse“. Beide, „Geist“ und „Masse“, werden hierbei zu spekulativen Wesenheiten: weder trifft dieser Geschichtsidealismus den wirklichen geistigen Lebensprozess der Gesellschaft noch den wirklichen materiellen Lebensprozess, die wirkliche Tätigkeit der Massen. Wenn in diesem Denken die „Masse“ dem „Geist“ als Widersacher entgegensteht, so ist hier nur ein gänzlich lebloses, abstraktes Schema eines Gegensatzes konstruiert, worin die wirklichen, historisch konkreten Widerspruchsverhältnisse, die wirklichen Gebrechen der alten Gesellschaft verschwinden. –

Die Kritik der Junghegelianer geht von dem Dogma der absoluten Berechtigung des „Geistes“ aus. Ferner von dem Dogma der außerweltlichen, außer der Masse der Menschen existierenden Existenz des Geistes:

Sie verwandelt endlich einerseits ,den Geist’, ,den Fortschritt’, andererseits ,die Masse’ in fixe Wesen, in Begriffe, und bezieht sie dann als solche gegebene feste Extreme aufeinander. Es fällt der absoluten Kritik nicht ein, den ,Geist’ selbst zu untersuchen, ob nicht in seiner eigenen spiritualisierten Natur, in seinen windigen Prätentionen, ,die Phrase’, die ,Selbsttäuschung’, ,die Kernlosigkeit’ begründet sind. (Mit diesen Schmähungen war die Masse durch die „Kritik“ der Junghegelianer bedacht worden; O. F.) Er ist vielmehr absolut, aber zugleich schlägt er leider beständig in Geistlosigkeit um: seine Rechnungen sind beständig ohne den Wirt gemacht. Er muss also notwendigerweise einen Widersacher haben, der gegen ihn intrigiert. Die Masse ist dieser Widersacher.“ [3/30]

Die hier von Karl Marx angegriffenen Verfahrensweisen betreffen Wesensmerkmale aller bürgerlich-ideologischen Verschleierungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Marx macht hier erneut klar, in welcher gedanklichen Konstruktionsweise Idealismus auf gesellschaftlichem Gebiet zustandekommt, warum er sich stets für die Verschleierung der Wirklichkeit im Interesse reaktionärer, volksfeindlicher Kräfte eignet. Das erste ist: Der Idealismus trennt die geistigen Prozesse vom praktischen Leben, insbesondere vom Leben der Volksmasse. [4/31] Das zweite: Nicht bloß ideologische Vorgänge werden so metaphysisch verselbständigt, auch praktisch- gesellschaftliche Prozesse werden hier in ideelle umgefälscht, zu höchst abstrakten, unhistorischen Wesen gemacht. Damit aber, mit dieser Auslöschung des realen Inhalts, des konkret-historischen Charakters jedes geistigen Prozesses, jeder fortschrittlichen Bewegung, jeder Aktion der Volksmassen, lässt sich dann beliebige Geschichte im Sinne durchaus konkreter reaktionärer Klassenziele interpretieren.

Die aktuelle Bedeutung dieses Marxschen Entlarvungswerkes solcher idealistischen Grundpositionen liegt auf der Hand. Auch in der heutigen imperialistischen Ideologie werden im Namen des Fortschritts schlechthin, der Freiheit, der Menschlichkeit, der Sittlichkeit, der Persönlichkeit, kurz einer ganzen Serie von gänzlich abstrakten Begriffen für die sogenannten „Grundwerte“ der spätkapitalistischen Welt sowohl die wirklichen Verhältnisse und Widersprüche verschleiert und der tatsächliche Rückschritt, die praktische Unfreiheit, Unmenschlichkeit und Unsittlichkeit gerechtfertigt.

Es ist heute wie in aller vorausgegangenen reaktionären Ideologie untergehender Ausbeuterklassen zunächst das Abstrahieren vom konkreten Inhalt der bezeichneten Vorgänge und Verhältnisse die elementare Methode, um die für das revolutionäre Handeln der progressiven Klassenkräfte wesentliche Erkenntnis zu verhindern: Es liegt ein keineswegs menschheitliches, gesamtgesellschaftliches, sondern stets ein sehr spezielles, durchaus klassensubjektivistisches Interesse vor, wenn von solchen abstrakten Werten in der bürgerlichen Ideologie gesprochen wird.

Marx weist auf die „Doktrinäre“ hin, eine Gruppe reaktionärer Ideologen der französischen Restaurationszeit nach 1815, in deren Lehren der reaktionäre Gehalt der idealistischen geschichtsphilosophischen Auffassung über das Verhältnis des aktiven „Geistes“ zur passiven Volksmasse als seinem Material unmittelbar politisch deutlich wird:

Die Doktrinäre proklamieren „… die Souveränität der Vernunft im Gegensatz zur Souveränität des Volkes …, um die Massen auszuschließen und allein zu herrschen. Es ist dies konsequent. Wenn die Tätigkeit der wirklichen Menschheit nichts als die Tätigkeit einer Masse von menschlichen Individuen ist, so muss dagegen die abstrakte Allgemeinheit, die Vernunft, der Geist im Gegenteil einen abstrakten, in wenigen Individuen erschöpften Ausdruck besitzen.“ [5/32] –

Hierin liegt die politisch-ideologische Logik all dieser idealistischen Abstraktionen von der wirklich konkreten Volksmasse und ihrem Handeln im Geschichtsprozess und von den tatsächlichen ideellen Prozessen in der Gesellschaft: Der so genommene abstrakte Begriff dient zur Rechtfertigung ganz konkreter politischer Aktion. Das Abstrahieren von der Mehrheit, bezweckt die konkrete Herrschaft einer Minderheit.

Marx beruft sich auf solche Vorläufer des wissenschaftlichen Sozialismus, solche genialen Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft wie Fourier und Owen, um ein Grundgebrechen der vorsozialistischen Welt, einen grundlegenden Widerspruch kenntlich zu machen, in dem sich bislang der geistige Fortschritt bewegt hatte. Die kommunistischen und sozialistischen Schriftsteller hätten gezeigt, „… dass alle Fortschritte des Geistes bisher Fortschritte gegen die Masse der Menschheit waren, die in eine immer entmenschtere Situation hineingetrieben wurde. Sie erklärten daher (siehe Fourier) ,den Fortschritt’ für eine ungenügende, abstrakte Phrase, sie vermuteten (siehe unter andern Owen) ein Grundgebrechen der zivilisierten Welt; sie unterwarfen daher die wirklichen Grundlagen der jetzigen Gesellschaft einer einschneidenden Kritik.“ [6/33] –

Karl Marx stellt so im Bunde mit den besten Vertretern des utopischen Sozialismus die Frage konkret: Fortschritt für wen? Intellektueller Fortschritt für oder gegen die Volksmassen? Die geistige Produktion, die Erkenntnisfortschritte der bisherigen Geschichte, so lautet das Fazit, waren, weil und sofern von der ausbeutenden Minderheit angeeignet, Fortschritte gegen die Masse.

Für die sozialistische Revolution folgt hieraus: Sie kehrt dieses Verhältnis um, Wissenschaft, Kunst, Kultur, aller geistige Reichtum der Gesellschaft werden von denen angeeignet, ohne deren Arbeitstaten er undenkbar wäre. Der geistige Reichtum wird also aus allen ihn einschränkenden, entarteten Fesseln befreit. Insbesondere hört er auf, als Instrument der „Entmenschlichung“, der Erniedrigung und Unterdrückung des arbeitenden Menschen zu dienen. –

Das schließt den erstmalig gründlichen Demokratismus dieser Revolution auch auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst ein. Zugleich das volle Wirksamwerden der mit der Revolution und im Gefolge des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus freigesetzten Entfaltung jener sittlichen und geistigen Kräfte, die im Proletariat selbst schlummern, die bereits vor der Revolution in dem Maße sich entfalten, wie das Proletariat um seine Emanzipation zu ringen beginnt. –

Die sozialistische Revolution erweist sich so als Befreierin dieser schöpferischen Kräfte des Proletariats, als Bewahrerin und Fortsetzerin jenes wahrhaft menschlichen Adels, durch den die proletarische Bewegung von Anbeginn ausgezeichnet ist: „Man muss das Studium, die Wissbegierde, die sittliche Energie, den rastlosen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennengelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können.“ [7/34]«

Anmerkungen

1/28 Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, S.86.

2/29 Ebenda, S. 85.

3/30 Ebenda, S. 88.

4/31 »Das hier von Marx aufgeworfene Problem scheint uns von hoher theoretischer und methodologischer Bedeutung für die marxistisch-leninistische Erforschung und Darstellung sozialgeschichtlicher Verhältnisse und Vorgänge. Insbesondere für die notwendige Ergänzung der traditionellen Darstellungsweise der weltanschaulichen Entwicklung durch eine umfassendere Ideologiegeschichte. So lange die Darstellung der Philosophiegeschichte stehen bleibt bei der Wiedergabe der Abfolge der philosophischen Systeme, ohne dem Vorgang ihrer ideologischen Wirkungsgeschichte nachzugehen, ihrer Umsetzung in Denk- und Verhaltensweisen außerhalb der Philosophie, außerhalb des akademischen und wissenschaftlichen Betriebs überhaupt, wird die wirkliche vielgestaltige Beziehung zwischen Philosophie und gesellschaftlicher Praxis nicht hinreichend aufgeklärt. Gerade die Aufklärung aber der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und dem wirklichen, das Handeln der Volksmassen, den Kampf sozialer Kräfte und gesellschaftlicher Klassen wesentlich prägenden ideologischen Prozess ist notwendig, um die akademische , volksfeindliche Borniertheit der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung zu überwinden.«

5/32 Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, S. 90.

6/33 Ebenda, S. 88.

7/34 Ebenda, S. 89.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 4.8. Entdeckung der Rolle der Volksmassen in der Geschichte, in: 4. Kapitel: Materialismus und revolutionäres Klassenbewusstsein contra subjektiven Idealismus (zur aktuellen weltanschaulichen Bedeutung der „Heiligen Familie“).

21.04.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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