Das Sein bestimmt das Bewusstsein

Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“

(Karl Marx)

von Otto Finger

»Friedrich Engels hat die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein als die Grundfrage aller, speziell der neueren Philosophie charakterisiert. [1] Er weist im gleichen Zusammenhang darauf hin, dass die Philosophien sich je nach der Antwort auf diese Frage in zwei Lager spalten: das des Materialismus und das des Idealismus. Materialist sein heißt zunächst nichts anderes, als die Ursprünglichkeit des materiellen Seins gegenüber dem Bewusstsein behaupten. Idealismus bedeutet das Gegenteil: die Behauptung des Primats des Bewusstseins – des Geistes, des Denkens, der Idee – vor dem materiellen Sein – der Natur, der Materie, der Realität. Friedrich Engels fügt dem hinzu, dass damit der Idealismus in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annimmt. [2] Idealismus ist so in seinem weltanschaulichen Kern religiöses und theologisches Bewusstsein, ganz gleich, wie scharf er sich als theoretischer, begrifflich-systematische Welterklärung dem bildhaft-phantastischen Denken der Religion konfrontieren mag. –

Die Bemerkung Friedrich Engels’, dass die mit dem Idealismus verbundene Annahme einer Weltschöpfung bei den Philosophen noch „verzwickter und unmöglicher“ [3] sei als im Christentum, ist noch immer aktuell. Ebenso aktuell wie der Hinweis in der „Deutschen Ideologie“ auf die „kritischen Spekulanten“ – die Junghegelianer und Max Stirner –, denen zufolge die Welt von verselbständigten Gedanken beherrscht wird, insonderheit aber von philosophischen und theologischen Gedanken, so dass die wirkliche Geschichte sich in eine „Gespenstergeschichte“, in Philosophie- und Theologiegeschichte verwandelt. [4] –

Auch im zeitgenössischen Revisionismus, auch bei den heutigen „kritischen Spekulanten“, die die Grundfrage der Philosophie und den philosophischen Materialismus für veraltet halten, hat die Revision des Marxismus dieses idealistische Resultat: Die reale Geschichte wird zur Geistergeschichte, Philosophie zur Weltschöpferin. Ein Vertreter der „Praxisphilosophie“ landet in genau jener Position des junghegelianischen subjektiven Idealismus, den Marx und Engels schon in der Entstehungszeit ihrer Theorie um jeden philosophischen Kredit gebracht hatten. Die Attacken „wider den autoritären Marxismus“ – d. i. die mit der Entwicklung des realen Sozialismus verbundene revolutionäre Theorie – münden in der subjektivistischen Illusion, dass jede philosophische Theorie bereits ein spezifisches Verändern und sogar Schaffen der Welt sei.[5] –

Diese Aufblähung philosophischen Denkens zur Weltschöpfung ruht allerdings auf einem philosophischen Standpunkt, der nicht über die Grundfrage der Philosophie nach dem Verhältnis von Denken und Sein hinausführt. Dass Philosophieren schon Verändern und Erzeugen von Realität sei, basiert auf der idealistischen Prämisse, dass das Denken eine Form der praktischen Tätigkeit des Menschen sei. [6] Diese Prämisse ist falsch. Denken ist etwas ganz anderes als praktisches Handeln. Keine noch so angestrengte Anspannung des Begriffs kann auch nur das winzigste Stückchen der wirklichen Welt bewegen. Es ist, wenn von der idealistischen Verwechslung des Denkens mit der Realität ausgegangen wird, auch nicht verwunderlich, dass in diesem „praxis-philosophischen“ Konzept der Sozialismus in eine bloße Bewusstseinstatsache verwandelt wird. Der Sozialismus sei lediglich ein „Aspekt“ des wirklichen Lebens, und zwar sein Selbstbewusstsein. [7] –

Zur mystischen Phrase wird diese subjektiv-idealistische Philosophie schließlich dort, wo sie den Sozialismus als „Kult der Persönlichkeit“ verkündet. [8] Es liegt auf der Hand, dass eine solche Philosophie den reaktionärsten und illusionärsten Träumen des Antikommunismus entgegenkommt. Die reale, materielle, praktische Alternative zum Kapitalismus erst einmal in eine bloße Idee zurückverwandelt, hätte die Monopolbourgeoisie guten Grund, sich wieder auf eine ungebrochene Herrschaft über den Erdball einzurichten. Ihre begründete Furcht auch vor der Idee des Sozialismus wurzelt gerade darin, dass diese Idee gedanklicher Ausdruck einer gesellschaftlichen Realität ist [- war und zukünftig ist -], der Arbeiterklasse, ihrer Interessen, Kämpfe [- Niederlagen -] und [künftigen] Siege.

Historischer Materialismus ist zunächst nichts anderes als die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie in bezug auf die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte. Historischer Materialist sein heißt, die Gesellschaft, ihr Entstehen und ihre Entwicklung unter der folgenden fundamentalen Voraussetzung erklären und untersuchen: Es sind die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Primat vor den ideellen haben; der ökonomische Lebensprozess ist gegenüber dem ideologischen das Ursprüngliche. Materialismus, betont Lenin in diesem Zusammenhang, besteht genau darin, „die Gesellschaftsformation durch die materiellen Bedingungen“ zu erklären. [9] –

Die klassische Formulierung dieses obersten Prinzips des historischen Materialismus gibt Karl Marx im berühmten Vorwort der Arbeit „Zur Kritik der politischen Ökonomie“: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ [10]

Marx weist am zitierten Ort darauf hin, dass die Anfänge dieses historisch-materialistischen Denkens zurückreichen bis in die Jahre 1842/43, da Marx als Redakteur an der „Rheinischen Zeitung“ tätig war. Hier sei er zuerst in die Verlegenheit gekommen, „über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen. Die Verhandlungen des Rheinischen Landtags über Holzdiebstahl und Parzellierung des Grundeigentums, die amtliche Polemik, die Herr von Schaper, damals Oberpräsident der Rheinprovinz, mit der ,Rheinischen Zeitung’ über die Zustände der Moselbauern eröffnete, Debatten endlich über Freihandel und Schutzzoll, gaben die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen.“[11] –

Marx’ Hinwendung zu theoretischen und praktischen Problemen der Ökonomie hatte also von Anbeginn eminent politische Motive. Die hiervon veranlasste Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – die wegen ihres Idealismus zur Verklärung und Rechtfertigung der miserablen feudal-absolutistischen Zustände dienen konnte – mündete bereits Ende 1843 (in der Marxschen „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, wozu das Einschlägige im 1. Kapitel skizziert wurde) im historisch-materialistischen Grundstandpunkt. –

Marx betont dieses materialistische Resultat nachdrücklich. Er sei schon in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“ (worin die genannte „Einleitung“ 1844 erschien) zu folgendem Ergebnis gelangt: Rechtsverhältnisse und Staatsformen sind nicht aus sich selbst und auch nicht „aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes“ zu begreifen. Vielmehr wurzeln sie „in den materiellen Lebensverhältnissen“ [13]. –

Eben das ist, auch im genauen Leninschen Sinne, historischer Materialismus: Die materialistische Doktrin besteht in einer bestimmten Lösung der Frage nach dem Verhältnis in doppelter, sowohl allgemein philosophischer als auch bereits konkret sozialtheoretischer Hinsicht materialistisch: Sein Ergebnis war erstens, dass soziale Verhältnisse nicht aus der Entwicklung des menschlichen Geistes abzuleiten sind. Sein Ergebnis war zweitens, dass ideologische Verhältnisse – zu ihnen zählen auch die Rechtsverhältnisse und Staatsformen – nicht aus sich selbst, sondern aus den materiellen r Lebensverhältnissen erklärt werden müssen.

Materielle Lebensverhältnisse aber sind gerade jene Beziehungen, die die Menschen untereinander und zur Natur eingehen, um ihr materielles Leben zu produzieren und zu reproduzieren.

Ideologische Verhältnisse sind bei Marx, Engels und Lenin nicht einfach ideelle Verhältnisse – Wissenschaft, Kunst, Ideologie und sonstige gesellschaftliche Bewusstseinsformen –, sondern vielmehr die Gesamtheit jener Verhältnisse, „die vor ihrer Ausgestaltung durch das Bewusstsein der Menschen hindurchgegangen sind“ [14]. Es zählen hierzu also auch der Staat und das Ganze der politischen Organisation der Gesellschaft mit all ihren verschiedenen Institutionen.

Die Ausarbeitung des historisch-materialistischen Grundstandpunktes, seine Konkretisierung anhand eines riesigen historischen Materials, auf dem Boden der Erfahrungen der Klassenkämpfe des 19. Jhs., bei der Lösung von Lebensfragen der proletarischen Bewegung, der Verallgemeinerung der Revolutionen von 1848 und der Pariser Kommune ist eine philosophische Grundlinie, die das ganze theoretische Werk von Marx und Engels durchzieht. Lenin hat diese Grundlinie weitergeführt, um die Fragen zu klären, vor denen die Arbeiterbewegung stand, als der Schwerpunkt der revolutionären Aktivität sich von Westeuropa nach Russland verlagerte, der Kapitalismus in sein imperialistisches Verfallsstadium trat und die Vorbereitung und Durchführung der sozialistischen Revolution zur praktischen Aufgabe wurde. –

Historischer Materialismus hat sich mit dem ganzen Reichtum der praktisch-gesellschaftlichen Erfahrungen und auch der Ergebnisse der Einzelwissenschaften, der Geschichtswissenschaften herausgebildet und weiterentwickelt. Und er hatte sich zugleich zu bewähren, um alle Teile der kommunistischen Weltanschauung auszuarbeiten, mit der Philosophie auch die wissenschaftliche politische Ökonomie und die wissenschaftliche Theorie vom Kommunismus. Der historische Materialismus gehört zu den allgemeinen theoretischen und methodologischen Voraussetzungen sowohl der Marxschen Untersuchung des Kapitalismus als auch der Leninschen Analyse des Imperialismus.

Ebenso ist er vorausgesetzt, um die theoretischen und praktischen Aufgaben des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaftsformation zu lösen. Solche hierfür charakteristischen Leninschen Schriften wie „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“, „Die große Initiative“, „Staat und Revolution“ sind Texte der Anwendung und der Konkretisierung des historischen Materialismus. –

Ferner: Der historische Materialismus hat sich auf allen Stufen der Herausbildung, Entwicklung und Anwendung der kommunistischen Weltanschauung im Kampf mit ihren Gegnern zu bewähren.

Was Friedrich Engels einmal von der materialistischen Dialektik sagte, dass sie nämlich die „schärfste Waffe“ und das „beste Arbeitsmittel“ der Begründer der kommunistischen Weltanschauung gewesen sei [15], das gilt auch vom historischen Materialismus. Ja, beides, materialistische Dialektik und historischer Materialismus, sind im Entstehen und in der Entwicklung der kommunistischen Theorie untrennbar verbunden. Es sind verschiedene Momente ein und desselben philosophischen Grundstandpunkts, nämlich des Materialismus: Ihn konsequent, umfassend, gründlich wissenschaftlich durchzuführen, heißt, ihn sowohl als dialektische als auch als historische Theorie entwickeln. –

Der dialektischen Methode eignet historisches Denken als übergreifendes Wesensmerkmal, und der historische Materialismus ist dialektische Gesellschaftstheorie. –

Historischer Materialismus entwickelte sich und hatte sich zu bewähren in der kritischen Überwindung solcher Richtungen wie des Junghegelianismus und der Feuerbachschen Anthropologie, des utopischen Sozialismus und Kommunismus, des kleinbürgerlichen Anarchismus Max Stirners und des Proudhonismus. –

Historischer Materialismus hatte sich [und hat sich] zu bewähren in der theoretischen Zerschlagung des Bakuninschen Anarchismus und des Lassalleanischen Opportunismus. –

Lenin verteidigte und entwickelte den historischen Materialismus im Kampf gegen den subjektiven Idealismus der Volkstümler und gegen den legalen Marxismus Peter Struves. Er hatte den historischen Materialismus gegen den Revisionismus machistischer Prägung zu verteidigen. Lenins philosophisches Hauptwerk, „Materialismus und Empiriokritizismus“, ist von fundamentaler Bedeutung nicht bloß für die Entwicklung der materialistisch-dialektischen Erkenntnistheorie, philosophischer Fragen der modernen Naturwissenschaften, der materialistisch-dialektischen Materieauffassung, sondern eben auch der materialistischen Geschichtsauffassung, ihre Verteidigung gegen eine Hauptrichtung der imperialistischen Philosophie, den Positivismus. In allen Perioden seines Schaffens setzte Lenin sich mit der Verfälschung und politischen Aufweichung des historischen Materialismus durch den Opportunismus der II. Internationale auseinander.

Auf allen diesen theoretischen Entwicklungsstufen und ideologischen Kampfabschnitten war es stets auch das Kardinalprinzip des historischen Materialismus, die These vom Primat des materiellen Seins gegenüber dem gesellschaftlichen Bewusstsein und der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber den ideologischen, das verteidigt, begründet, angewendet wurde. Und so wie Marx dieses Prinzip als entscheidendes Resultat bereits seiner frühen kritischen Revision der höchsten Errungenschaft der klassischen idealistischen Philosophie, der Hegelschen Dialektik, festgehalten hat, so bekräftigt er es auch in den ökonomischen Hauptschriften, in der Arbeit „Zu Kritik der politischen Ökonomie“, in den „Grundrissen“ und im „Kapital“.«

Vom Primat des materiellen Seins gegenüber dem Bewusstsein

»Dass man vom Primat des materiellen Seins gegenüber dem Bewusstsein ausgehen muss, betont Karl Marx in den „Grundrissen“ in einem entscheidenden methodologischen Zusammenhang. Es ist die Frage nach dem Verhältnis von Abstraktem und Konkretem in der Darstellungsweise eines sozialgeschichtlichen Organismus. Als wissenschaftlich richtig bezeichnet Marx jene Methode, die vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigt. Abstraktes bezeichnet hier einfache, elementare Verhältnisse zum Unterschied vom Konkreten als dem an Bestimmungen Reichen. –

Vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigen heißt bei der politisch-ökonomischen Betrachtung eines Landes, mit dem Einfachen – Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert – zu beginnen, und von diesen einfachsten Bestimmungen aufsteigen zum Staat, zum Austausch der Nationen, zum Weltmarkt. [16] –

Das Konkrete nun als die Einheit des Mannigfaltigen, die Zusammenfassung vieler Bestimmungen, das Konkrete als das Ganze – der Kapitalismus in der inneren Wechselwirkung aller ihn auszeichnenden sozialen Verhältnisse – erscheint im Denken als Resultat. –

Aber natürlich ist der Kapitalismus, diese sozial-ökonomische Gesellschaftsformation, diese konkret-historische Produktionsweise der „wirkliche Ausgangspunkt“, d. h. die gesellschaftliche Wirklichkeit, von der das Denken ausgehen muss. Das kritische, historisch-dialektische, polit-ökonomische Bewusstsein vom Kapitalismus ist selbstredend abgeleitet aus dem materiellen Sein, aus dem wirklich existierenden Kapitalismus.

Die kapitalistische Produktionsweise ist das Ursprüngliche gegenüber allen in ihr herrschenden Bewusstseinsformen, und sie muss als historische Realität gegeben sein, ehe sie zum Gegenstand von Theorie wird. Der von diesen elementaren Voraussetzungen ausgehende Materialist Marx wirft nun dem Idealisten Hegel vor, dass er auf eine für den Idealismus typische Illusion geraten ist, nämlich „das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozess des Konkreten selbst.“ [17] Das Realkonkrete, der wirkliche gesellschaftliche Organismus entsteht keineswegs aus dem geistig Abstrakten.

Die historische Wirklichkeit ist kein Produkt der Idee, sondern es gilt das Umgekehrte. Marx ergänzt im zitierten Zusammenhang noch, dass die Bewegung der Kategorien nur demjenigen philosophischem Bewusstsein als der wirkliche Produktionsakt erscheinen kann, dem das begreifende Denken als der wirkliche Mensch und daher die begriffene Welt erst als Wirklichkeit erscheint. Es ist das philosophische Bewusstsein des Idealismus. Ihm erscheint das Wesen des Menschen als Denken und das Wesen der Wirklichkeit als Begriff. Innerhalb dieser Voraussetzungen gilt die Annahme: Die Bewegung der Kategorien erzeugt die Welt, die Bewegung der Begriffe ist jener Vorgang, der die soziale Wirklichkeit produziert, Gedankenproduktion ist Geschichtsproduktion. Das Ganze läuft auf eine Tautologie hinaus: Nimmt man die konkrete Totalität – das Ganze einer Gesellschaftsformation, den Kapitalismus als System – als Gedankentotalität, als gedankliches, gedachtes Konkretum, dann ist dieses Gedankenganze selbstverständlich ein Gedankenprodukt.

Gedanken sind Erzeugnisse des menschlichen Bewusstseins, seines Vermögens zur Analyse und Synthese, seiner Fähigkeit zu vergleichen und zu abstrahieren. Aber diese Gedankenoperationen sind keine Weltschöpfungen, sondern Abbildungen der Realität und wirklicher Prozesse, insbesondere materieller Arbeitsprozesse: „Das Ganze wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehen; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch.“ [18] Auch der letztere Zusatz, dass das reale Subjekt – die Gesellschaft, die wirkliches Subjekt ist gegenüber dem Begriff als dem nur illusorischen Subjekt – nur solange in ihrer Selbständigkeit bestehen bleibt, wie der Kopf – der denkende Mensch – sich zu ihr nur theoretisch verhält, kann nicht als Zurücknahme des Materialismus gewertet werden. –

Selbständige Existenz gegenüber dem denkenden Menschen ist hier gemeint als Spontanität und Entfremdung der gesellschaftlichen Entwicklung, als Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber den Individuen. Deren Überwindung aber, dies ist wiederum die eindeutig materialistische Konzeption von Marx, kann nur das Werk praktisch-gegenständlichen, materiellen Handelns sein. Ein bloß theoretisches Verhalten zur Gesellschaft belässt sie, wie sie ist. –

Materielles Handeln aber ist deshalb die Grundlage der Veränderung der Gesellschaft, weil die Gesellschaft ein materieller Organismus ist. Und keine Aktion der Veränderung der Gesellschaft vermag ihre Materialität aufzuheben.

Den gleichen materialistischen Standpunkt vom Primat des materiellen Seins gegenüber dem Bewusstsein bezieht Marx auch ausdrücklich, wenn er die weltanschauliche und methodische Grundlage der theoretischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise im „Kapital“ charakterisiert. Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des „Kapitals“ spricht Marx von der „materialistischen Grundlage“ seiner Methode, die er im zitierten Vorwort der Arbeit „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ erörtert habe. [19] Dem russischen Rezensenten des ersten Bandes des Kapitals bestätigt Marx, dass er die dialektische Methode richtig charakterisiert habe. In dieser Rezension heißt es unter anderem: „Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozess, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewusstsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewusstsein und Absichten bestimmen … Wenn das bewusste Element in der Kulturgeschichte eine so untergeordnete Rolle spielt, dann versteht es sich von selbst, dass die Kritik, deren Gegenstand die Kultur ist, weniger als irgend etwas anderes, irgendeine Form oder irgendein Resultat des Bewusstseins zur Grundlage haben kann. Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen.“ [20]

Die von Marx angewandte Methode ist also unauflöslich mit dem materialistischen Standpunkt verbunden. Daher betont Marx auch im gleichen Zusammenhang, dass seine dialektische Methode ihrer Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil ist. Diese Grundlage ist der Materialismus, die Anerkennung des Primats des Materiellen vor dem Ideellen. Hegel habe, erklärt Marx, den Denkprozess in ein selbständiges Subjekt verwandelt. Bei Hegel ist die Idee der „Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ [21] –

Von diesem weltanschaulichen Grundsatz, diesem gleichermaßen theoretischen wie methodischen Angelpunkt der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, geht Karl Marx im „Kapital“ auch dort aus, wo er Zusammenhänge untersucht, die die menschliche Geschichte als ganzes betreffen. Marx selbst widerlegt so jene schon mehrfach berührte falsche Ansicht, wonach der materialistische Standpunkt nur auf die bürgerliche Welt anwendbar, ja nur ein ideologisches Vorurteil solcher Zustände sei, in denen fatalerweise das materiell Ökonomische die Übermacht über alles andere habe. Marx widerlegt in einer Anmerkung zum ersten Kapitel des ersten Bandes des „Kapitals“ die Vorstellung des französischen Vulgärökonomen Bastiat, wonach die Griechen und Römer nur vom Raub gelebt hätten. [22] –

Die Voraussetzung hierfür ist, dass etwas zu rauben beständig da sein oder der Gegenstand des Raubes sich fortwährend reproduzieren muss: „Es scheint daher, dass auch die Griechen und Römer einen Produktionsprozess hatten, also eine Ökonomie, welche ganz so die materielle Grundlage ihrer Welt bildete wie die bürgerliche Ökonomie die der heutigen Welt.“ [23] –

Im gleichen Zusammenhang kommt Karl Marx auf den schon zur Zeit des Erscheinens der Schrift „Zur Kritik der politischenÖkonomie“ vorgetragenen Einwand zu sprechen, dass das Primat der Produktionsweise gegenüber dem Überbau samt seinen Bewusstseinsformen nur für die bürgerliche Gesellschaft gelte. In der bürgerlichen Welt würden die materiellen Interessen herrschen, nicht aber im Mittelalter und in der Antike. Im Mittelalter hätten der Katholizismus und in Griechenland und Rom die Politik geherrscht. Wir erkennen erneut, wie wenig originell der vom modernen Revisionismus und der „kritischen“ Theorie verbreitete Standpunkt ist, historischer Materialismus sei eine bloß für den Kapitalismus zutreffende Denkweise. –

Gegen die „weltbekannten“ – und idealistischen – „Redensarten“ über Mittelalter und antike Welt stellt Karl Marx materialistisch fest: „Soviel ist klar, dass das Mittelalter nicht vom Katholizismus und die antike Welt nicht von der Politik leben konnte. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt, warum dort die Politik, hier der Katholizismus die Hauptrolle spielte.“ [24] –

Marx geht hier wie stets als philosophischer Materialist vor: politische und ideologische Verhältnisse führen kein Eigenleben und sind auch nicht die Schöpfer historischer Epochen. Vielmehr bestimmen die materiellen Verhältnisse, determiniert die Produktionsweise den gesamten Lebensprozess eines Zeitalters.«

Anmerkungen

1 Vgl. MEW, Bd. 21, S. 274.

2 Vgl. ebenda, S. 275.

3 Ebenda.

4 Vgl. MEW, Bd. 3, S. 137, 156ff.

5 G. Petrović, Wider den autoritären Marxismus, Frankfurt/M. 1969, S. 192.

6 Ebenda.

7 Vgl. ebenda, S. 157.

8 Ebenda, S. 127.

9 W. I. Lenin, Werke, Bd. 1, S. 174.

10 Vgl. MEW, Bd. 13, S. 9.

11 Vgl. MEW, Bd. 13, S. 7f.

12 Ebenda, S. 8.

13 Vgl. W. I. Lenin, a. a. O., S. 174.

14 Vgl. ebenda, S. 130.

15 Vgl. MEW, Bd. 21, S. 393.

16 Vgl. Karl Marx, Grundrisse, S. 21.

17 Ebenda, S. 22 (Hervorhebung von O. F.).

18 Ebenda.

19 MEW, Bd. 23, S. 25.

20 Ebenda, S. 26.

21 Ebenda, S. 27.

22 »Schon in den „Grundrissen“ hatte Karl Marx sich mit der „hergebrachten Vorstellung“ auseinander gesetzt, dass in gewissen Perioden nur vom Raub gelebt worden sei. Würde diese Vorstellung stimmen, so wäre periodenweise das materialistische Prinzip aufgehoben, wonach es die materielle Produktion ist, die den gesellschaftlichen Zuständen zugrunde liegt. Dann wäre der Raub der Vater aller gesellschaftlichen Dinge. Marx entgegnet dem, dass nur geraubt werden kann, was vordem produziert wurde. Auch die Art des Raubes werde durch die Art der Produktion bestimmt. Eine Nation von Kuhhirten könne nicht auf die gleiche Weise beraubt werden, wie eine „stockjobbing nation“. Wird mit dem Sklaven das Produktionsinstrument selbst geraubt, so muss eine Gliederung der Produktion gegeben sein, die Sklavenarbeit zulässt. (Vgl. Grundrisse, S. 19).«

23 MEW, Bd. 23, S. 96.

24 Ebenda.

Quelle: Über historischen Materialismus und zeitgenössische Tendenzen seiner Verfälschung. Autor: Otto Finger. Akademie-Verlag Berlin 1977. Vgl.: 4.1. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, in: 4. Kapitel: Sein und Bewusstsein.

10.04.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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