Angriffe des modernen Revisionismus gegen die Führungsorgane der sozialistischen Gesellschaft – vor dem ideologischen und gesellschaftspolitischen Triumph der Konterrevolution des Imperialismus
Von Otto Finger (1973)
»Zur Kennzeichnung charakteristischer Verfälschungen des Wesens der Führungsorgane der [real-] sozialistischen Gesellschaft durch den zeitgenössischen Revisionismus seien Roger Garaudy und Predrag Vranicki genannt. Letzterer, Vertreter der revisionistischen „Praxis“–Philosophie, behauptete in „Mensch und Geschichte“: „Der politische Staat ist eine Form der menschlichen Alienation.“ [1/9] Diese auf den ersten Blick höchst abstrakte Gleichsetzung von Entfremdung und Staat ist hier der Ansatz für eine Kanonade konkreter Diffamierungen der sozialistischen Staatsmacht. Wobei sich zeigt, dass gerade die Abstraktheit der zitierten Aussage die ideologisch-theoretische Voraussetzung für die antikommunistische und antisowjetische Argumentation ist. Sie abstrahiert zunächst vom konkreten Inhalt jedes Staates, seinem Klassenwesen ebenso wie vom konkreten Inhalt der Entfremdung. Dann aber werden konkrete Inhalte des kapitalistischen Staates und der kapitalistischen Entfremdung auf den sozialistischen Staat und den sozialistischen Lebensprozess übertragen. Die Argumentation unterstellt die Glaubwürdigkeit des folgenden Schlusses:
1. Jeder Staat bewirkt Entfremdung.
2. Im Sozialismus gibt es einen Staat.
3. Im Sozialismus herrscht Entfremdung.
Genauer zielt dann die Argumentation, wie wir unschwer erkennen können, auf die Verleumdung des Sowjetstaates.
Die Entfremdung durch den Staat komme darin zum Ausdruck, dass in ihm der einzelne „alle Macht auf die politische Instanz übertragen (hat), die über ihn verfügt wie über ein gewöhnliches Mittel“ [2/10]. Die generalisierende Grundthese lautet dabei: Politik bedeute überhaupt Fortbestand der bürgerlichen Tradition. Politischer Demokratismus beispielsweise bedeute „politische Gesellschaft“ und damit Fortbestand der alten Verhältnisse. Näher wird dann die behauptete Entfremdung mit aus dem gängigen Vokabular des Antikommunismus entliehenen Ausdrücken beschrieben wie „Allmacht des Staates“, „etatistische Bürokratie“, „etatistische Deformation des Sozialismus“, „Verplanung“ des Individuums.
Der grundsätzliche ideologische Irrtum und die vorsätzliche Demagogie beruhen dabei auf folgendem: Die Redewendungen appellieren an den ngerade durch die Wirkungsweisen und unabdingbaren Entwicklungstendenzen des Ausbeuterstaates sehr wohl vorhandenen Erfahrungsinhalt der Begriffe Staat, Bürokratie usf. Selbstverständlich ist die Ausübung der Staatsmacht durch die ausbeutende Bourgeoisie mit aller und jeder Entfremdung des arbeitenden Menschen verbunden. Der Ausbeuterstaat der Kapitalistenklasse sichert in der Tat die feindliche Macht des Kapitals über die Arbeit, die Unfreiheit des arbeitenden Individuums, die Übermacht der Bourgeoisie und die Ohnmacht des Proletariats, er ist der konzentrierte Ausdruck der allseitigen – ökonomischen, politischen, ideologischen – Unterdrückung der Arbeiter. Der bürgerliche Staat hat tatsächlich für die „Verplanung“ des Individuums im Interesse des Kapitals zu sorgen, er ist das vielfältig wirkende Instrument des Kapitals, um das arbeitende Individuum zu seinem „Mittel“ zu degradieren.
Die zitierte Redeweise greift auf sehr alte Muster zurück – im Grunde auf die Kritik des vorrevolutionären Bürgertums am feudalistischen Staat. Termini wie „Allmacht des Staates“ und „Etatismus“ gehören der Periode an, da die Ideologen der um ihre Emanzipation kämpfenden Bourgeoisie ihr künftiges Regiment als das Reich der Freiheit und Individualität, als den entschiedensten Gegensatz gegen die Herrschaft des Feudalabsolutismus verkündeten. „Etatismus“, die scheinbare Identität des herrschenden Rechts mit dem Willen des absoluten Monarchen, die scheinbare Einheit von Staat und Herrscherperson als die gestaltgewordene Allmacht eines einzelnen und damit als höchstes Maß an Unfreiheit der ganzen Gesellschaft, als höchstes Maß an sozialer „Unnatur“ sollte aufgesprengt, ersetzt werden durch das „naturgemäße“ Regime der Bourgeoisklasse. Ihre Ideologen versprachen, an die Stelle der Souveränität des feudalen Monarchen die Souveränität des Volkes zu setzen. So sollte die Macht aller an die Stelle der Allmacht des einen treten. Was wirklich in der bürgerlichen Revolution geschah, war allerdings nur der Übergang der politischen Macht aus den Händen der Feudalklasse in die Hände der Kapitalistenklasse.
Der Rückgriff auf Begriffe und seinerzeit historisch fortschrittliche Motive der bürgerlichen Ideologie geschieht hier mit dem Versuch, den sozialistischen Staat als etwas zu diffamieren, das absolutistischer wäre als der bürgerliche Staat. In anderen Worten, der bürgerlich-ideologische Horizont ist und bleibt die Schranke all dieser Argumentationen. Er drückt sich auch bei den Revisionisten in dieser doppelten Weise aus: Zum einen wird die tatsächliche Praxis der bürgerlichen Staatsmaschinerie mit schein- und antikommunistischer Tendenz auf den Sozialismus übertragen. Dann aber wird dieser Popanz von sozialistischem Staat, den es nicht gibt, gerade weil der sozialistische Staat die tatsächlich allseitige Negation des bürgerlichen Staats, weil er, mit Lenin zu reden, kein Staat im „eigentlichen“, d. i. Ausbeuterinteresse vertretenden Sinne mehr ist – dann also wird dieses der antikommunistischen Ideologie entsprungene Schreckgespenst von Staat mit ideologischen Waffen bekämpft, die selbst der bürgerlichen Tradition angehören.
Der Antikommunismus und Antisowjetismus tritt als Scheinkommunismus auf. Der Sozialismus, die erste Phase der einheitlichen kommunistischen Gesellschaftsformation, wird nicht bloß einseitig, sondern auch in böswillig antikommunistischer Verleumdung als ein solches Gebilde einer Übergangsperiode gesehen, worin es vor lauter Tradition, vor lauter fortbestehenden bürgerlichen Verhältnissen zu gar keiner neuen historischen Qualität des gesellschaftlichen Lebens kommen soll. Als Fortbestand aber der alten Tradition gelten neben dem Staat auch Parteien, Arbeitsteilung, Geld, Lohnverhältnis, Markt, „Psychologie“, „Fetischismus“. Im Sozialismus, und deshalb müsse ihn als „deformiert“ betrachten, würden die alten Momente verabsolutiert. Die Konzeption vom „ausgebauten“ – also vom entfalteten und entwickelten Sozialismus – wäre ein Widerspruch in sich. Und zwar deshalb, weil es sich vorgeblich immer nur um einen „Ausbau“ traditioneller Momente handeln könne. Dagegen müsse ein solcher „Übergangscharakter“ des Sozialismus gesetzt werden, worin „Prozesse des Absterbens aller dieser Formen und Verhältnisse“ inauguriert würden. Neuer „kommunistischer Inhalt“, das sei in „erster Linie“ „Selbstverwaltung des arbeitenden Menschen“. [3/11]
Das scheinkommunistische Konzept entpuppt sich so als kleinbürgerlich-reaktionäre, anarcho-syndikalistische Utopie. Wenn „Selbstverwaltung des arbeitenden Menschen“ hier als kommunistische Zukunft gegen den realen Sozialismus gesetzt wird und dabei selbst die Arbeitsteilung schlechtweg – nicht in ihrem kapitalistischen Klasseninhalt – als Merkmal für „deformierten Sozialismus“ gilt, dann wird klar: Das Ganze ist so himmelweit von Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus entfernt, steht in einem so krassen Widerspruch zu den Gesetzmäßigkeiten des Aufbaus des Kommunismus, der Schaffung seiner materiell-technischen Basis, dass es eine theoretische Auseinandersetzung kaum lohnt. Womit wir es zu tun haben, ist die theoretisch völlig gehaltlose Utopie, den Kommunismus auf gleichsam vorindustrieller Entwicklungsstufe der Produktion aufbauen zu können.
Es handelt sich weiter um die ebenso unwissenschaftliche Vorstellung, die für den Kommunismus notwendige Entfaltung der materiellen und ideellen Produktivkräfte ließe sich ohne gesamtgesellschaftliche Planung, ohne Konzentration der Produktionsmittel, ohne die Verschmelzung der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der sozialistischen Produktionsverhältnisse erreichen. In der Theorie bewegt sich das Konzept völlig unterhalb des Niveaus der Marxschen, speziell in der „Kritik am Gothaer Programm“ entwickelten Theorie vom Aufbau des Kommunismus; ganz zu schweigen von der Weiterentwicklung dieser Theorie im Leninismus. Es ignoriert die elementarsten historischen Erfahrungen der wirklichen Entwicklung des Sozialismus. In der Praxis käme es der völligen Kapitulation vor dem Imperialismus gleich, der Zerstörung aller notwendigen ökonomischen, sozialen und politischen Voraussetzungen sowohl für die Lebensfähigkeit der sozialistischen Gesellschaft als auch ihrer Entwicklung zum Kommunismus.
Die ideologische Hauptwurzel dieser fatalen Konzeption liegt in der Übernahme der uralten antikommunistischen – heute vor allem durch die sogenannte Industriegesellschaftskonzeption verbreiteten – Vorstellung: Sozialismus, das soll nichts anderes sein als eine Modifikation von Kapitalismus. Beispielsweise eine Form der verspäteten Industrialisierung, wie es in „sowjetologischen“ Darstellungen der Entwicklung des Sozialismus heißt. –
Ist aber erst einmal alles weltgeschichtliche Neue, sind die wirklichen Kriterien des Sozialismus an die Peripherie gesetzt oder als Fortbestand der bürgerlichen Tradition umgefälscht, dann lässt sich nicht bloß die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution bestreiten. Dann ist in der Tat auch der ideologische Boden für die Konterrevolution bereitet: Ein bloß „modifizierter“ Kapitalismus könnte ja dann auch in den „originalen“ Kapitalismus „transformiert“ werden.
Bei Garaudy wird der Angriff gegen den sozialistischen Staat und die marxistisch-leninistische Partei in einer ganz ähnlichen, teils wörtlich übereinstimmenden Weise geführt. Auch Garaudy behauptet, „das Entstehen einer neuen Bürokratie nach der sozialistischen Revolution“. Er beruft sich dabei wie seine Gewährsleute aus dem ganzen Lager der antileninistischen Renegatenliteratur gern auf Lenin selbst. In der Tat gehört es zu einer wesentlichen Seite des Leninschen Spätwerkes, Fragen der unmittelbaren Staatspraxis, der Organisation des Sowjetstaates auf sozialistisch-demokratischer Grundlage zu behandeln. Dabei hat sich Lenin auch mit der Frage auseinandergesetzt, wie bürokratischen Auswüchsen entgegenzuwirken sei, wie sie überwunden werden müssen. Ein aussagekräftiges Dokument für die Leninsche Art des Herangehens an die Staatspraxis ist eine seiner letzten Arbeiten, „Lieber weniger, aber besser“. –
Zu den Leninschen Grundforderungen gehört es, an alle Fragen im buchstäblichen Sinne vom „Parteistandpunkt“ heranzugehen, die Normen der Avantgarde der Arbeiterklasse voll zur Geltung zu bringen, um den Sowjetstaat als einen sozialistischen Staat zu entwickeln und zu vervollkommnen. –
Lenin bestimmt die Rolle der Arbeiter- und Bauerninspektionen als eines wichtigen Instrumentes für diesen Prozess und für die Überwindung von Bürokratismus. Gleichzeitig verbindet Lenin die Prinzipien für die Arbeitsweise dieses Organs mit der Gesamtheit der vor der jungen Sowjetmacht stehenden Aufgaben auf dem Gebiet der Außenpolitik, des Bündnisses mit der Bauernschaft, der Entwicklung von Kultur und Wissenschaft, der Entwicklung der maschinellen Großindustrie, der Sicherung der Energiebasis für die Volkswirtschaft, der Elektrifizierung. [4/12] –
In der revisionistischen Verfälschung der Leninschen Theorie zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates wird der ganze gedankliche Reichtum der Werke aus Lenins letzten Lebensjahren auf folgendes reduziert: „Die Hauptsorge Lenins in den letzten Jahren seines Lebens … war eben dieser Kampf gegen die bürokratischen Auswüchse des Sowjetapparates.“ [5/13]
Nachdem bei Garaudy die Leninsche Theorie und sowjetische Praxis des sozialistischen Staates auf den „Bürokratismus“ als ihren vorgeblichenAngelpunkt herabgebracht ist, wird dann zur Konstruktion der Entfremdung im Sozialismus fortgeschritten. Es entstehe aus dem genannten Grunde eine „Rückkehr zur äußerlichen Beziehung zwischen dem Arbeiter und seinem Staat …, eine neue Entfremdung, die den Arbeiter einmal mehr zum Objekt statt zum Subjekt der Geschichte macht.“ [6/14] So steil schwingt sich die platteste Wiederholung einer alten Losung des Antisowjetismus im Revisionismus zur höchsten geschichtsphilosophischen Spekulation auf! Das Schema hierfür ist:
– Sozialistischer Staat = Bürokratie
– Bürokratie = Entfremdung
– Entfremdung = Objektsein des Arbeiters
Die Folgerung: Der sozialistische Staat macht den Arbeiter zum Objekt der Geschichte. Damit ist gerade die entscheidende historische Wahrheit über den sozialistischen Staat auf den Kopf gestellt. Wenn wir seine ausschlaggebenden historischen Leistungen – ebenso wie die der Partei der Arbeiterklasse, die dafür die Voraussetzungen geschaffen hat – in geschichtsphilosophischer Allgemeinheit ausdrücken wollen, dann müssen wir sagen:
Indem die [differenziert technisch-wissenschaftlich/wissenschaftlich-technische] Arbeiterklasse [die werktätigen Frauen und Männer] die Macht erobert, ihren [real-]sozialistischen [Übergangs-]Staat entwickelt, hat sie ein für allemal aufgehört, „Objekt“ zu sein, Objekt der Ausbeutung, der politischen Unterdrückung, der ideologischen Verdummung durch das Kapital, sondern ist „Subjekt“ geworden, selbstbewusster Gestalter der [real-]sozialistischen Gesellschaft [zukünftig!].
Die drei Katechismusformeln Garaudyscher Attacken gegen den Leninschen Typ des Staates und der Partei der Arbeiterklasse lauten, und zwar im vorgeblichen Gegensatz zum „Dogma“ der kommunistischen Weltbewegung:
– Eine „Einheitspartei“ sei nicht notwendig für den Aufbau des Sozialismus.
– Die Diktatur des Proletariats brauche nicht verbunden zu werden mit der Führungsrolle der Partei der Arbeiterklasse (Garaudy kleidet dies in die platt-polemisch gemeinte Form, dass die Diktatur des Proletariats nicht eine „Diktatur der Partei“ sein brauche).
– Die sozialistische Revolution brauche der Bourgeoisie nicht ihre politischen Rechte zu nehmen. [= * Die drittgenannte Katechismusformel des Antikommunismus und heutigen Bourgeoissozialismus ‘nationaler Prägung’; R. S.]
Das Erstgenannte richtet sich offensichtlich gegen die historische Notwendigkeit der Partei neuen Typs, die unter imperialistischen Bedingungen kampffähige Avantgarde der Arbeiterklasse. Wenn der verschwommene Ausdruck „Einheitspartei“ auf die Einheitlichkeit der ideologischen Grundlagen, die organisatorische Festigkeit, den demokratischen Zentralismus der Partei Leninschen Typs abzielt, dann sei betont: Genau das sind die unabdingbaren Voraussetzungen ihrer Stärke. –
Das Zweitgenannte zielt außer auf die Verfälschung des Klasseninhalts der Diktatur des Proletariats darauf ab, die Rolle der Partei der Arbeiterklasse als der politisch führenden Kraft der [real-]sozialistischen Gesellschaft herabzumindern. –
Das Drittgenannte ist nur ein zugespitzter Ausdruck für eine konterrevolutionäre Denkweise, der wir schon in anderen Zusammenhängen begegnet sind:
Die Diktatur des Proletariats – undenkbar ohne die Beseitigung der politischen Rechte der Bourgeoisie als Bourgeoisie – soll in den Rahmen des seinbaren „Pluralismus“ der bürgerlich-demokratischen Form [heute, analog Bourgeois-“Sozialismus chinesischer Prägung“ etc.] der Machtausübung der Kapitalistenklasse zurückgezwängt werden.
In den skizzierten Standpunkten zeigt sich: Moderner Revisionismus stimmt mit der politischen Haupttendenz der sozialismusfeindlichen Publizistik aus dem offen imperialistischen Lager vollständig überein. Er richtet sich gegen die politische Macht der Arbeiterklasse und die Führungsrolle ihrer Partei.
In allen Varianten von „Begründungen“ für diese Konzeption spielt die Verfälschung der Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie eine erhebliche Rolle. Einen philosophiehistorischen Schwerpunkt bilden dabei die Werke aus der Entstehungsgeschichte der Marxschen Lehre. Drei Momente der spätbürgerlichen und revisionistischen Marxfälschung sind in unserem Zusammenhang wesentlich:
Erstens werden die politisch-ideologischen Inhalte des frühmarxschen Werkes verfälscht. Also jene Aussagen, worin die Marxsche Theorie sich als wissenschaftliches Klassenbewusstsein des Proletariats formiert, worin sie als theoretische Grundlage des politischen Klassenkampfes gegen die Herrschaft des Kapitals sich ausprägt. Sie erscheinen in der spätbürgerlichen Fehldeutung als völlig nebensächlich. Häufig auch werden sie einfach übergangen.
Zweitens wird geleugnet, dass gerade in der Konkretisierung dieser Seiten der Marxschen Theorie, im Ausbau dieser Theorie zu einem umfassenden Instrument des proletarischen Klassenkampfes die entscheidende Linie des Entwicklungsprozesses von den Anfängen bis zum „Manifest der Kommunistischen Partei“ liegt. Dass also das „Manifest“ den krönenden Abschluss der Entstehungsgeschichte der wissenschaftlichen Weltanschauung [Weltaneignung] gerade deshalb bildet, weil es erstmalig in zusammenhängender, systematischer Form alle entscheidenden politischen Schlussfolgerungen aus der vorherigen philosophischen, politökonomischen und sozialtheoretischen Entwicklung zieht. Das „Manifest“ arbeitet den inneren Zusammenhang aller drei Bestandteile der Marxschen Lehre – ihrer Philosophie, ihrer politischen Ökonomie und ihres wissenschaftlichen Kommunismus – als einen theoretischen und politischen Zusammenhang heraus. Die drei Bestandteile bilden ein Ganzes wesentlich, sofern sie verschiedene Seiten und Voraussetzungen eines einheitlichen politischen Ziels begründen: die revolutionäre Befreiung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen vom Kapitalismus und die Eroberung der politischen Macht des Proletariats als Hauptinstrument für den Aufbau des Kommunismus. –
Letzteres aber, die Begründung des politischen Weges und Zieles des Kampfes der Arbeiterklasse findet seinen konkretesten Ausdruck in der Ausarbeitung der Lehre vom sozialistischen Staat und von der revolutionären Partei. Das „Manifest“, und darin wurzelt seine herausragende theoretische Stellung und geschichtliche Wirkung ganz wesentlich, entwickelt die Grundzüge der marxistischen Partei- und Staatstheorie. Es hebt dabei die Ansätze der vorhergehenden Schriften auf eine neue Stufe. Dieser Weg der Konkretisierung der Marxschen Lehre und diese Einheit von Philosophie und Politik werden in der spätbürgerlichen und revisionistischen Fälschung geleugnet. –
Staats- und Parteitheorie erscheinen hier eher als fremde Zutat zum vorgeblich unpolitischen und überhistorischen philosophischen Kern, als etwas gegenüber dem „Authentischen“ der Marxschen Philosophie Unorganisches – auch als „Abfall“ von der Philosophie überhaupt –, denn als ihre notwendige Konsequenz. Selbstredend spielen diese Fragen in den Frühschriften nicht jene Rolle wie in der durch das „Manifest“ eingeleiteten reifen Entwicklungsgeschichte des Marxismus. Die Frühschriften sind ja gerade erst Dokumente der theoretischen Vorbereitung dieses für alle seitherigen Klassenkämpfe entscheidenden Schritts: die Vereinigung der wissenschaftlichen Theorie mit der Arbeiterbewegung durch eine revolutionäre Partei. Es sind Dokumente der schrittweisen Überwindung des vorgefundenen Gedankenmaterials. Und es sind Dokumente, in denen die Konkretheit der späteren Schriften in diesen Fragen auch darum nicht erreicht werden konnte, weil die geschichtlichen Erfahrungen dafür noch nicht gegeben waren. –
Mit der 1848er Revolution und dem Kommunardenaufstand von 1871 erreichen diese Seiten der marxistischen Theorie eine – auch gegenüber dem „Manifest“ – sehr viel konkretere Gestalt. Die Verfälschung auf diesem Gebiet besteht so auch darin, dass gerade die Schranken des sich eben formierenden marxistischen Denkens, die notwendig bedingten Grenzen, in denen am Beginn sich die Fragen der politischen Macht bewegten, verabsolutiert werden.
Drittens wird nicht nur die politische Seite der Entstehungsgeschichte des Marxismus verfälscht, sondern der Marxismus wird als Ganzes gegen den Leninismus mit genau diesem Angelpunkt gesetzt: der Partei- und Staatstheorie. Marx und Engels erscheinen dann als Prediger eines höchst verschwommenen Ideals von Kommunismus, eines Reiches kommunistischer Freiheit, das gleichsam in einem „großen Sprung“ aus der bisherigen Geschichte entsteht. –
Die tausendfältigen Hinweise von Karl Marx und Friedrich Engels zu den politischen Voraussetzungen für die kommunistische Umwälzung werden völlig in den Hintergrund der Betrachtung gedrängt. In dieses Konzept gehört es auch, wenn Marx und Engels die unsinnige Anschauung unterstellt wird, sie hätten die Partei eher als einen Diskutierklub und einen Propagandaverein betrachtet, nicht aber als eine straff geführte Kampforganisation des Proletariats. Letzteres nsei erst durch Lenin in den Marxismus hineingetragen worden. –
Es erscheint darum notwendig, sowohl die Keime der Staats- und Parteitheorie im Frühwerk als auch ihre erste zusammenhängende Durchbildung im „Kommunistischen Manifest“ sichtbar zu machen. Daraus wird sich ergeben, dass der Leninismus sehr wohl auch in diesen Fragen Fortsetzung und Höherentwicklung des Marxismus ist. Ferner wird sich ergeben: Marx und Engels haben schon vor der Revolution von 1848 Standpunkte zum Verhältnis zwischen Staat, Partei und Revolution entwickelt, die sich in aller seitherigen Entwicklung bewährt haben und zum theoretischen Rüstzeug auch aller heutigen revolutionären Aktivität der Arbeiterklasse gehören, eingeschlossen die Führungsrolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei bei der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft.«
Anmerkungen
1/9 P. Vranicki, Mensch und Geschichte, Frankfurt/M. 1969, S. 19.
2/10 Ebenda.
3/11 Vgl. ebenda, S. 22 ff.
4/12 Vgl. W. I. Lenin, Lieber weniger, aber besser, in Werke, Bd. 33, Berlin 1963, S. 474–490.
5/13 R. Garaudy, Kann man heute noch Kommunist sein?, Hamburg 1970, S. 84.
6/14 Ebenda, S. 86.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 6.3. Angriffe des modernen Revisionismus gegen die Führungsorgane der sozialistischen Gesellschaft, in: 6. Kapitel: Proletarischer Klassenkampf, politische Machteroberung und revolutionäre Partei der Arbeiterklasse.
16.08.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)