Ansätze für das Konzept kommunistisch befreiter Arbeit
von Otto Finger
Die Analyse der kapitalistischen Entfremdung des Menschen in der Arbeit selbst erbringt über die Entlarvung eines der revolutionären Beseitigung bedürftigen Grundgebrechens des Kapitalismus hinaus noch ein weiteres, für die Revolutionstheorie wesentliches Resultat. Dieses liegt in folgendem: Karl Marx formuliert Normen und Ziele, die für die durch die sozialistische Revolution anbrechende neue Gesellschaft und ihre kommunistische Entwicklung charakteristisch sind. Normen und Ziele, deren Entwicklung und Verwirklichung einen Hauptinhalt der neuen gesellschaftlichen Führungstätigkeit bilden. Innerhalb der Widerspruchsverhältnisse der Selbstentfremdung der Arbeit beschwört ja Marx weniger eine verlorene Vergangenheit – so sehr die vorkapitalistische Einheit des Produzenten mit den Produktionsmitteln noch im „Kapital“ geltend gemacht wird. Vielmehr nimmt er theoretisch die kommunistische Zukunft vorweg.
Und zwar in solchen, als Alternative zur Selbstentfremdung des Menschen in der Arbeit entwickelten Bestimmungen einer nicht mehr kapitalistisch verkrüppelten Arbeitstätigkeit wie den folgenden:
– Der Mensch bejaht sich in der Arbeit.
– Er fühlt sich in ihr glücklich.
– Er entwickelt in ihr seine freie physische und geistige Energie.
– Er vollbringt die Arbeit freiwillig.
– Sie ist kein bloßes Mittel zur Bedürfnisbefriedigung, sondern selbst [kreativ-schöpferisches] Lebensbedürfnis.
In dieser Norm, dass nämlich die Arbeit erstes Lebensbedürfnis wird, liegt nicht bloß ein Hauptfeld kommunistischer Erziehung, der Kultur- und Bildungsrevolution, der sozialistischen Wirtschaftspolitik, der Arbeitsorganisation, in dieser Norm liegt auch eine sich praktisch verwirklichende Entwicklungstendenz des Sozialismus selbst vor. –
Nicht so, als würde Arbeit als erstes Lebensbedürfnis den sozialistischen Produktionsverhältnissen entspringen wie Athene dem Kopfe des Zeus. Auch nicht als konfliktloser „großer Sprung“ aus jener jahrhundertealter kapitalistischen Fremdheit der Arbeit, die, wie Karl Marx sagt, darin „rein hervor (tritt), dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.“ [1/96] Wohl aber als Vorgang einer schrittweisen Verwirklichung der objektiven und subjektiven Bedingungen hierfür, der materiell produktionstechnischen ebenso wie der kulturell-ideologischen. –
In einem Punkt freilich ist mit dem sozialökonomisch entscheidenden Schritt der Revolution, der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Produzenten, sofort und ein für allemal die Möglichkeit und die Notwendigkeit gegeben, die Arbeit aus der von Karl Marx beschriebenen Selbstentfremdung zu befreien. Es ist fortan zum Wohle des Arbeiters selbst. –
Aber sie [die Arbeit] wird zunächst noch innerhalb einer Reihe technischer, organisatorischer, wissenschaftlicher usf. Bedingungen geleistet, die keineswegs auf der eigenen Grundlage des Sozialismus gewachsen sind, sondern als materielle Voraussetzungen im Kapitalismus gebildet wurden. Die Lösung dieses Widerspruchs ist langwierig und erfordert die ganze [kreativ-] schöpferische Energie der werktätigen Menschen.
L. I. Breshnew ist im Rechenschaftsbericht des ZK der KpdSU an den XXIV. Parteitag – in Fortführung einer von Lenin mit der Errichtung der Sowjetmacht von Anbeginn begründeten Politik [- O. F., 1973 -] auf die konkrete Dialektik zwischen Entwicklung der, mit Marx zu reden, „Wesenskräfte“ des Menschen in ihrer Allseitigkeit einerseits und der Entwicklung der materiellen Produktion, der Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Veränderung des Charakters der Arbeit andererseits eingegangen. Er gibt diese Dialektik für die konkreten Bedingungen des Fünfjahresplans von 1970–1975, aber auf dessen Grundlage auch für die nächste weitere Entwicklungsperiode an [- Rechenschaftsbericht von 1971 -] und betont hierbei:
„Wenn das Zentralkomitee die wesentliche Erhöhung des Lebensniveaus der Werktätigen als Hauptaufgabe des 9. Fünfjahrplans betrachtet, so geht es davon aus, dass dieser Kurs unsere Tätigkeit nicht nur in den bevorstehenden fünf Jahren bestimmen wird, sondern die allgemeine Orientierung zur wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion für eine weit gesteckte Perspektive ist. Bei der Festlegung dieses Kurses geht die Partei vor allem davon aus, dass die maximale Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen das höchste Ziel der gesellschaftlichen Produktion im Sozialismus ist …
Die Partei geht auch davon aus, dass die Erhöhung des Lebensniveaus der Werktätigen zu einem immer dringenderen Erfordernis der wirtschaftlichen Entwicklung selbst, zu einer wichtigen ökonomischen Voraussetzung für die rasche Steigerung der Produktion wird. Ein solches Herangehen ergibt sich nicht nur aus unserer Linie, die auf die weitere Verstärkung der Rolle materieller und moralischer Anreize zur Arbeit gerichtet ist. Die Frage wird jetzt viel umfassender gestellt: Es geht um die Schaffung der Bedingungen, die die allseitige Entwicklung der Fähigkeiten und der schöpferischen Aktivität der Sowjetmenschen, aller Werktätigen begünstigen, das heißt um die Entwicklung der Hauptproduktivkraft der Gesellschaft. Die moderne Produktion stellt rasch wachsende Forderungen nicht nur an die Maschinen, an die Technik, sondern auch vor allem an die Werktätigen selbst, an diejenigen, die diese Maschinen bauen und diese Technik steuern. Fachkenntnisse, hohe berufliche Qualifikation und das allgemeine kulturelle Niveau des Menschen verwandeln sich in eine unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit von immer breiteren Schichten der Werktätigen. All das hängt jedoch wesentlich vom Lebensniveau ab, davon, in welchem Umfang die materiellen und geistigen Bedürfnisse befriedigt werden können.“ [2/97]
Hierin sind notwendige Kriterien und Bedingungen dafür enthalten, dass der Werktätige in der Arbeit sich durchaus im genannten Marxschen Sinne bejahen kann. Eine zunehmende Rolle spielen dabei, weil auch die bewusste, freiwillige Selbstverwirklichung des Menschen in der Arbeit kein spontaner Prozess ist, die moralisch-ideologischen Faktoren. Und zwar gerade sofern sie neues, kommunistisches Verhalten formulieren. Hierzu sagt L. I. Breshnew:
„Die fortschrittlichste Ideologie wird nur dann zu einer realen Kraft, wenn sie, indem sie die Massen ergreift, sie zu aktiven Handlungen bewegt, die Normen ihres tagtäglichen Verhaltens bestimmt. An einer der ersten Stellen in der ideologischen Arbeit, die die Partei leistet, steht die Erziehung der sowjetischen Menschen zu einer neuen, kommunistischen Einstellung zur Arbeit. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Das Leben bestätigt mit aller Überzeugungskraft, wie recht Wladimir Iljitsch Lenin hatte, als er betonte: „Eine neue Arbeitsdisziplin, neue Formen der gesellschaftlichen Bindung zwischen den Menschen, neue Formen und Methoden der Heranziehung der Menschen zur Arbeit zu schaffen – das ist eine Aufgabe von vielen Jahren und Jahrzehnten. Es ist eine dankbare, eine edle Aufgabe.“
… Der Sieg des Sozialismus [- 1971 * -] in unserem Lande hat einen früher in der Geschichte der Menschheit unbekannten Arbeitsenthusiasmus der Massen hervorgebracht [*], wie die Stachanow-Bewegung [- 1971; 1973 von O. F. übernommen -] die Bewegung für kommunistische Einstellung zur Arbeit und andere. [*]
… Die Partei sah ihre Aufgabe darin, die Massenbewegung für eine kommunistische Einstellung zur Arbeit zu unterstützen, die schöpferische Initiative der sowjetischen Menschen allseitig zu fördern.“ [3/98]
Warum entfremdet sich der Arbeiter [*] in der kapitalistischen Produktionstätigkeit von sich selbst, warum ist sie keine freiwillige, schöpferische Selbstbetätigung? –
Was Marx in all den Bestimmungen der verderblichen Entäußerung des Menschen in der entfremdeten Arbeit festhält, ist wiederum – so wie bei der ersten Seite der Entfremdung, der Entfremdung vom Produkt – Ausdruck eines tieferen, in der Produktion selbst vor sich gehenden Prozesses, eines in ihrer kapitalistischen Form selbst wurzelnden Verhältnisses. [*] –
Diesen zugrundeliegenden Prozess und dieses Verhältnis charakterisiert Karl Marx so: „… das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen …“ [4/99] –
Ferner betont Karl Marx: „Endlich erscheint die Äußerlichkeit der Arbeit für den Arbeiter darin, dass sie nicht sein eigen, sondern eines andern ist, dass sie ihm nicht gehört, dass er in ihr nicht sich selbst [!*], sondern einem andern angehört [!*] … die Tätigkeit des Arbeiters (ist) nicht seine Selbsttätigkeit. Sie gehört einem andern, sie ist Verlust seiner selbst.“ [5/100] –
Dies aber ist nichts anderes als der grundlegende Tatbestand, worauf – neben dem Privateigentum an den Produktionsmitteln – die Ausbeutung und Unterdrückung des Arbeiters im Kapitalismus beruht: Der von den Produktionsmitteln getrennte Arbeiter [- auch ein Kernproblem, – Entfremdung -, im (historisch) vergangenen Real-Sozialismus; R. S.] muss seine Arbeitskraft an den Eigentümer der Produktionsmittel, den Kapitalisten verkaufen.
Dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich werden kann, hat seinen Grund darin, dass die Arbeitskraft zur Ware geworden ist. Sie kann nunmehr sich erhalten und produktiv werden, indem sie sich an den Kapitalisten verkauft. –
Erneut beginnt so Marx eine wesentliche Seite der Produktionsverhältnisse – von denen alle übrigen Verhältnisse der Verteilung, der Konsumtion, der Herrschaft, der Ideologie abgeleitet sind – des Kapitalismus zu enthüllen. –
Die Weise zu produzieren ist das A und O dieser Ordnung; die Weise zu produzieren daher in erster Linie umzuwälzen. Es ist zu betonen: Marx bereitet in den „Manuskripten“ die volle Klärung der Verwandlung von Geld in Kapital erst vor. Er spricht noch undifferenziert von der Arbeit, nicht der Arbeitskraft, die der Arbeiter verkauft. Erst im „Kapital“ klärt Marx des Näheren die Bedingungen auf, die erfüllt sein müssen, damit „der Geldbesitzer die Arbeitskraft als Ware auf dem Markt vorfinde.“ [6/101]«
Anmerkungen
1/96 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 514.
2/97 L. I. Breshnew, Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XXIV. Parteitag der KPdSU, Moskau/Berlin 1971, S. 57, 58.
3/98 Ebenda, S. 112, 113. »Das Leninzitat entstammt dem Aufsatz „Von der Zerstörung einer jahrhundertealten Ordnung zur Schaffung einer neuen“. (Werke, Bd. 30, S. 509–511). In diesem Aufsatz gibt Lenin eine Definition von kommunistischer Arbeit, worin der Grundgedanke von Marx, wie er in den „Manuskripten“ entwickelt wird, unübersehbar aufgehoben ist:
„Kommunistische Arbeit im engeren und genauen Sinne des Wortes ist unbezahlte Arbeit zum Nutzen der Gesellschaft, die man leistet, nicht um eine bestimmte Dienstpflicht zu erfüllen, nicht um Anspruch auf bestimmte Produkte zu erhalten, Arbeit, die nicht nach vorher festgelegten Normen geleistet wird, sondern freiwillige Arbeit, Arbeit ohne Norm, Arbeit, die geleistet wird, ohne auf Entlohnung zu rechnen, ohne die Bedienung der Entlohnung, aus der Gewohnheit, für das Gemeinwohl zu arbeiten, und aus der (zur Gewohnheit gewordenen) Erkenntnis von der Notwendigkeit der Arbeit für das Gemeinwohl, Arbeit als Bedürfnis eines gesunden Organismus.“ [Definition von Lenin] (Ebenda, S. 510)«
4/99 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 515.
5/100 Ebenda, S. 514.
6/101 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, S. 181 ff.
Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 5.12. Ansätze für das Konzept kommunistisch befreiter Arbeit, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.
11.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)