Dialektik der Revolution

Über die Entfremdung des Arbeiters im Akt der kapitalistischen Produktion selbst und einen „anthropologischen“ Uranfang der Marxschen Theorie

von Otto Finger

Als zweite Seite der Entfremdung betont Marx die Entfremdung im „… Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit selbst.“ [1/90] Marx stellt die Frage, ob es denn zur Entfremdung des Arbeiters vom Produkt kommen könne, wenn er nicht in der Arbeit sich von sich selbst entfremdet. Die Entfremdung vom Produkt, von der Sache könne nur begriffen werden als Resultat, als „Resumé“ der Selbstentfremdung in der Arbeit, weil doch das Produkt nur Ergebnis der Produktion sei. So dass dann gilt: „Wenn also das Produkt der Arbeit die Entäußerung ist, so muss die Produktion selbst die tätige Entäußerung, die Entäußerung der Tätigkeit, die Tätigkeit der Entäußerung sein.“ [2/91]

Marx kennzeichnet die Selbstentäußerung des Menschen in der Arbeit, die Tatsache, dass Arbeit ihm im Kapitalismus äußerlich wird, nicht seinem Wesen angehörig [3/92], durch solche Widersprüche wie die folgenden:

Der Arbeiter bejaht sich in der Arbeit nicht, fühlt sich in ihr nicht wohl, kann keine freie physische und geistige Energie entwickeln, fühlt sich in ihr „außer“ sich, seine Arbeit ist nicht freiwillig, ist nicht Befriedigung eines Bedürfnisses. Sondern: Der Arbeiter verneint sich in der Arbeit, fühlt sich in ihr unglücklich, „kasteit seine Physis ab“, ruiniert seinen Geist, ist erst außer der Arbeit „bei sich“, er verrichtet Zwangsarbeit, bloßes Mittel, um Bedürfnisse außer der Arbeit zu befriedigen.

Die unmenschliche Spitze dieser kapitalistischen Selbstentfremdung des Menschen in der Arbeit ist nach Marx das Resultat des Widerspruchs, „dass der Mensch (der Arbeiter) nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck, etc., sich als freitätig fühlt und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Tier. Das Tierische wird das Menschliche und das Menschliche das Tierische.“ [4/93]

Es ist erneut zu fragen, ob wir es hier mit Anthropologie im frühmarxschen Denken und – damit zusammenhängend – mit einem Stück „moralisierender“ Kritik des Kapitalismus zu tun haben. Ob also nicht Marx im Namen des Wesens des Menschen den Kapitalismus verurteilt. Und zwar den Kapitalismus gerade deshalb verurteile, weil er den Menschen auf das Tier herabbringe. Diese Frage ist darum so wesentlich, weil vom Platz, den man den tatsächlichen Resten Feuerbachscher Anthropologie in den „Manuskripten“ einräumt, von der theoretischen und ideologischen Rolle, die sie spielen, es sehr wesentlich abhängt, ob die „Manuskripte“ eher im revisionistisch-kleinbürgerlichen Sinne als abstrakt-humanistische Texte der „Entrüstung“ über schlimme Seiten des Kapitalismus verharmlost werden. Oder aber, ob sie ein bereits wesentliches Stück proletarisch-revolutionärer Kritik des Kapitalismus auf der Basis des sich formierenden dialektischen und historischen Materialismus darstellen. Vorläufig halten wir nur fest, dass Marx auch in der zitierten Passage ausdrücklich vom Arbeiter spricht, damit sein Grundanliegen als politisches, für die Klasse des Proletariats Partei ergreifendes kenntlich macht. Gleichwohl könnte ja der allgemeinere philosophisch-theoretische Ansatz hierfür in Anthropologie, nicht aber in materialistischer Geschichtsauffassung liegen.

Bei Klaus Hartmann, der die Frage einer vorgeblichen Anthropologie bei Marx, ihres Verhältnisses zur Ökonomie und zur Kritik der Wirklichkeit „als eines Weges über das Proletariat“ vielfältig aufwirft – alle drei Motive würden in den „Manuskripten“ zur „Synthese“ gebracht – bei Hartmann also wird anlässlich Marxscher Sätze über das Gattungswesen und Gattungsleben des Menschen behauptet: „In beiden Begriffen, ,Gattungsleben’ und ;Gattungswesen’ liegt die Absicht des Theoretikers, die anthropologische Konkretion gleich an den Anfang zu setzen und nicht von einem solchen im Grunde individuellen, pränumerischen oder prinzipiellen Subjektbegriff (wie demjenigen des Hegelschen Geistes, der sich in der Welt, auch der sozialen Welt objektiviert; O. F.) aus Gesellschaft und gegebenenfalls gesellschaftlicher Entfremdung erst dartun zu müssen in einer begrifflichen Genealogie … Ist diese gesellschaftliche oder anthropologisch-plurale, aber abstrakt gedachte Dimension gleich in den Ansatz, in das Modell aufgenommen, so ist klar, dass folglich die entfremdete Arbeit ,das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungswesen, zu einem Mittel seiner individuellen Existenz’ macht. Ein gleichsam anthropologisch zum Menschen Gehöriges wird ihm ,zu einem fremden Wesen’, wird herabgesetzt zum Mittel für das Bedürfnis des Menschen, als einzelner auch nur zu überleben.“ [5/94]

Nicht darin liegt das Verkehrte dieser Betrachtung, dass auf eine wesentliche Seite des Marx-Hegel-Gegensatzes aufmerksam gemacht wird, nämlich die Marxsche – Feuerbach zunächst folgende – Entgegensetzung des Menschen gegen den bloßen Begriff und tätigen Geist. Auch nicht darin, dass Hartmann hervorkehrt, wie Marx entfremdete Arbeit als Selbstentfremdung des menschlichen Wesens bestimmt. Wohl aber in den folgenden Momenten, worin – prototypisch für die ganze bürgerliche Verfälschung der „Manuskripte“ – Materialismus, materialistische Dialektik, Klassenstandpunkt negiert und so die politisch-revolutionäre Grundidee der „Manuskripte“ verschüttet werden:

Es wird als der Anfang Marxscher Theoriebildung behauptet, dass „anthropologische Konkretion gesetzt“ werde. Wir erfahren darüber hinaus noch die tautologische Plattheit, dass diese anthropologische Konkretion als „mit dem Menschen gegeben“ gesetzt werde. Sehen wir von dem gespreizt akademischen Wortwechsel ab, so bleibt als Kern der Behauptung, Marx beginne mit dem Menschen.

In der Tat beginnen weder die „Manuskripte“, noch irgend ein anderer Text, noch irgend ein Teil oder das Ganze der Theorie mit solchem Abstraktum. Dass Hartmann die reale Fülle der Marxschen Einsichten in gesellschaftliche Produktionstätigkeit, in die Mensch – Natur – Vermittlung durch gesellschaftliche Arbeit, soziale Gegensätze, Klassenwidersprüche in den hegelianisierenden Ausdruck „anthropologische Konkretion“ zusammenschrumpft, kann diesen Sachverhalt nicht verdecken. Es ist überhaupt verfehlt, solch einen „Anfang“ – oder solche „zentrale Kategorie“ – in der marxistisch-leninistischen Philosophie zu suchen. Als gänzlich antispekulative, lebensverbundene, die soziale Wirklichkeit verallgemeinernde, den Naturwissenschaftsfortschritt abbildende, die Klassenkämpfe auf den konkreten theoretischen Begriff bringende Anleitung zum revolutionären Handeln der Arbeiterklasse lässt sich ein solcher Punkt prinzipiell nicht angeben. Er lässt sich nur künstlich aus den spekulativen Philosophien – genauer aus den Illusionen ihrer Schöpfer oder Epigonen über ihren jeweiligen Fixpunkt, woraus alle weitere Denkbewegung entspringe – auf den Marxismus übertragen. In diesem Falle auf die „Manuskripte“ bzw. auf dasjenige, was als Ausgangspunkt einer ihrer Analysen genommen wird. Und keineswegs hängt die theoretische Geschlossenheit etwa von solchem vereinseitigten und vereinzelten Drehzapfen ab, wie sehr er auch als „Synthese“ oder „Konkretion“ behauptet werden möge. Sicher, es gibt entscheidende Ansätze, übergreifende theoretische Linien, die für das Hinausgehen Marx’ über die idealistische Philosophie Hegels, die Anthropologie Feuerbachs, den Subjektivismus der Junghegelianer, den Utopismus Proudhons, den Anarchismus Stirners usf. wesentlich sind, Materialismus, materialistische Dialektik, proletarischer Klassenstandpunkt sind theoretisch und politisch in erster Linie und als zusammenfassende Ausdrücke vieler philosophisch-ideologischer Detailentwicklungen zu nennen. Gerade sie aber fallen in der bürgerlichen Marxinterpretation weitgehend oder gänzlich heraus. Und wenn Hartmann einen abstrakt-anthropologischen Anfang für die Entfremdungstheorie behauptet, dann gerade, um die genannten Voraussetzungen für die tatsächlich genialen Keime der Marxschen Analyse der entfremdeten Arbeit zu verdecken.

Hartmann beantwortet uns im Zitierten die Frage, warum Marx den Menschen und seine sogenannte anthropologische Konkretion „gleich an den Anfang“ setzt: Marx wollte es sich schlicht etwas bequemer und weniger umständlich machen als Hegel oder Sartre. Letztere hätten nämlich in ihrer „Phänomenologie des Geistes“ bzw. „Kritik der dialektischen Vernunft“ Gesellschaft und gesellschaftliche Entfremdung geneologisch aus dem Subjektbegriff erst ableiten müssen. Eben das hatte sich Marx also erspart. Hartmann belehrt uns ja, wie wir uns erinnern, über seine intime Kenntnis gerade dieser „Absicht“ des Theoretikers Marx.

Und so kann es dann nicht Wunder nehmen, dass aus einem von Marx aus unerfindlichen Gründen vorausgesetzten „Modell“, ähnlich wie in Hegels sich dialektisch fortzeugendem Begriff, die entfremdete Arbeit als bloßes Existenzmittel entspringt. Das soll aus diesem Modell deshalb entspringen, weil die „abstrakt gedachte anthropologisch-plurale Dimension“, das ist der gelehrte Ausdruck für gesellschaftliche Tätigkeit, gleich in es hineingenommen ist. In anderen Worten: Marx konstruierte erst einmal ein Modell, aus ihm konnte er dann auch die entfremdete Arbeit mit ihren Folgen ableiten. Es kommt zur Abspaltung der Arbeit vom Menschen – erneut Bekräftigung der Gedankentiefe durch Tautologie –, also von etwas, das „anthropologisch“, wenn auch nicht schlechtweg, so doch „gleichsam“ zum Menschen gehöre.

Hier ist in der Tat alles auf den Kopf gestellt. Marx wird derart des Zusammenhangs zur Wirklichkeit entkleidet, die von aller geschichtlichen Praxis „gereinigte“ Theorie so verdreht, dass alles wirklich Neue auch schon am jungen Marx sich auflöst in eine abgeschwächte Reproduktion und bloße Kombination des schon gedanklich Gewesenen, bürgerlicher theoretischer Motive. Hartmann grenzt sich nachdrücklich von vereinseitigt anthropologischer Deutung von Marx ab. In der Tat stellt er deren Grundmangel – das Verfehlen des Klassenstandpunkts der Marxschen kritischen Geschichtstheorie und das Vernachlässigen des Primats des Materialismus in allen ihren Aspekten – nur auf erhöhter, extrem gekünstelter, extrem spekulativ konstruierter Stufenleiter wieder her.

Worauf zielt Marx’ Feststellung über den Verlust des Gattunswesens des Menschen – auf welchen Begriff noch einzugehen sein wird –, über die Verkehrung des Menschlichen in Tierisches und des Tierischen in Menschliches durch die entfremdete Arbeit ab? Das Ausschlaggebende ist: Marx formuliert dies durchaus auf dem Boden einer den Kapitalismus überschreitenden Sicht, über ihn in kommunistischer Richtung hinausführend und eine entscheidende Seite aller geschichtlichen Bewegung in das Konzept der Kapitalismuskritik einbegreifend. Dieses Übergreifende, Bestimmende aller menschlichen Tätigkeit, jede geschichtliche Epoche Prägende, das ist die materielle Arbeit. [6/95] Diese primäre, alle übrige Aktivität bestimmende schöpferische Wesenskraft des Menschen, die jedem geschichtlichen Fortschritt zugrunde liegt, die auch die ganze Geschichte der Naturaneignung und der fortschreitenden Vergesellschaftung des Menschen bestimmt, gerade die Wesenskraft des arbeitenden Menschen verkehrt sich in eine gegen ihn feindliche Kraft und Macht als Kapital.

Damit aber und mit der hiervon untrennbaren Unfreiheit, Äußerlichkeit, Erzwungenheit der Arbeit tritt jene Verkehrung von Subjekt und Objekt, von lebendiger und vergegenständlichter Arbeit als Kapital ein, die Menschliches zum Tierischen herabbringt.

Marx argumentiert also auch hier gegen den Kapitalismus von der kommunistischen Zukunft her – einer Gesellschaft freier, bewusster Verwirklichung aller Kräfte des arbeitenden Menschen – und aus der Einsicht in eine grundlegende Qualität allen geschichtlichen Handelns des Menschen heraus.

Dass Feuerbachs anthropologische und naturkritische Kritik an Hegels spekulativen Idealismus Marxsche gedankliche Motive und Marxsche Sprache in den „Manuskripten“ beeinflusst, sie gerade auch deshalb ein Dokument des Werdens des historischen Materialismus sind, steht dabei außer Frage. Worauf es aber – auch um die Ansätze der marxistischen Revolutionstheorie erkennen zu können – ankommt, ist der Weg über den bürgerlichen Demokraten Feuerbach hinaus zum kommunistischen Revolutionär.«

Anmerkungen

1/90 Karl Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 514.

2/91 Ebenda.

3/93 »Hier könnte die Frage auftauchen: Bedeutet Kapitalismus also die Aufbrechung einer vordem vorhandenen Wesenseinheit des Menschen, sofern etwa vordem die Arbeit dem Menschen nichts Äußerliches, sondern Innerliches war, Arbeitstätigkeit und Menschsein noch nicht auseinanderfielen? Wäre demnach also Kapitalismus ein Rückschritt hinter Zustände des Feudalismus? In einer Beziehung ganz sicher ja: die Verfügungsgewalt des Produzenten über seine Produktionsmittel, sein Eigentum an ihnen – das Eigentum des Bauern am Boden, des Handwerkers an seiner Werkstatt, Gerät – usf. wird mit der ursprünglichen Akkumulation vernichtet. (Dass es sich teils bis in den Spätkapitalismus erhält, ändert nichts am Resultat der ursprünglichen Akkumulation: die übergroße Masse der Produzenten bleibt vom Eigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen.) Marx vermerkt hierzu im „Kapital“: „Das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln ist die Grundlage des Kleinbetriebs, der Kleinbetrieb eine notwendige Bedingung für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion und der freien Individualität des Arbeiters selbst. Allerdings existiert diese Produktionsweise auch innerhalb der Sklaverei, Leibeigenschaft und anderer Abhängigkeitsverhältnisse. Aber sie blüht nur, schnellt nur ihre ganze Energie, erobert nur die adäquate Form, wo der Arbeiter freier Privateigentümer seiner von ihm selbst gehandhabten Arbeitsbedingungen ist, der Bauer des Ackers, den er bestellt, der Handwerker des Instruments, worauf er als Virtuose spielt.“ (K. Marx, Das Kapital, Erster Band, S. 789). –

Gleichwohl ist die kapitalistische Beseitigung dieses Zustandes ein gewaltiger historischer Fortschritt, Bedingung für eine vordem nie gekannte Erhöhung der Produktivität der Arbeit. Eben weil sie die Zersplitterung der Produktionsmittel beseitigt, sie konzentriert, den beschleunigten Einsatz immer produktiverer Maschinerie erlaubt usf. Aber, und dies machen die „Manuskripte“ klar, es ist ein Fortschritt – gerade weil innerhalb des Fortbestands der Klassengegensätze, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sich bewegend – um den Preis der massenhaften Verelendung und Vereinseitigung des arbeitenden Menschen. Und es ist ein Fortschritt, der die objektiven Bedingungen für die Auflösung seiner eigenen Grundlagen erzeugt sowie die subjektiven Faktoren ihrer bewussten Revolutionierung

4/93 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 514 f.

5/94 K. Hartmann, Die Marxsche Theorie, S. 148, 149.

6/95 »Mit gebührender Klarheit hat dies auch der sowjetische Philosophiehistoriker T. J. Oiserman herausgearbeitet, der den Grundstandpunkt in den „Manuskripten“ so zusammenfasst: „Die Arbeit, die materielle Produktion ist nach Marx das Gattungsleben des Menschen.“ Oder: „Die Arbeit ist also das Wesen des Menschen, das wodurch er Mensch ist, ein gesellschaftliches Wesen, zu vielseitiger Tätigkeit und zu unbegrenztem Fortschritt fähig.“ Und er sagt ferner, dass nach Marx die Arbeit „eine spezifisch menschliche, schöpferische, den Menschen und die Menschheit formende Macht“ ist. (Vgl. T. J. Oiserman, Die Entstehung der marxistischen Philosophie, Berlin 1965, S. 247, 248, 249.)«

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.11. Über die Entfremdung des Arbeiters im Akt der kapitalistischen Produktion selbst und einen „anthropologischen“ Uranfang der Marxschen Theorie, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

09.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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