Gegen die subjektiv-idealistische Philosophie des Individualismus

von Otto Finger

Marx zeigt ferner, wie auch die bürgerliche Idee der Individualität, der Freiheit und Selbstgenügsamkeit des einzelnen eine Selbsttäuschung ist. Sie ruht philosophisch auf dem Idealismus, d. i. hier insbesondere der Vorstellung vom Menschen als einem unsinnlichen, immateriellen Wesen. Sie fußt nach ihrer näheren ideologischen Genesis auf der Verkehrung des Scheins der bürgerlichen Gesellschaft, die sich als eine Summe von konkurrierenden, gleichsam atomisierten Individuen darstellt, zum Wesen dieser Gesellschaft. Der unmittelbare Zusammenhang, in welchem die Kritik dieser wichtigen und noch immer aktuellen Seite von bürgerlicher Ideologie vorgenommen wird, betrifft die junghegelianische Anschauung vom Staat. Er sei charakterisiert durch die Aufgabe, die „einzelnen selbstsüchtigen Atome“, die Individuen der Gesellschaft zusammenzuhalten. Was Marx hier attackiert, ist die junghegelianische Variante der spekulativ-idealistischen Hegelschen Staatstheorie, wonach der Staat, genauer die Idee des Staates, tätiges Prinzip, Subjekt, Schöpfer, bestimmende Instanz der bürgerlichen Gesellschaft ist. Allgemeiner: Wonach das Ideelle des Staates das Materiell-Ökonomische der Gesellschaft determiniert. Marx spricht vom „politischen Aberglauben“ dieser Vorstellung, dass der Staat das bürgerliche Leben, also die kapitalistische Industrie, die kapitalistische Produktionsweise zusammenhalte. –

Es gelte vielmehr das Umgekehrte: das bürgerliche Leben bestimme den Staat. Für das Entwicklungsstadium der Revolutionstheorie in der „Heiligen Familie“ ist hierbei charakteristisch, dass das Schwergewicht der Analyse auf den grundlegenden – fundamental auch für Staat, Recht, Politik, Ideologie – Verhältnissen liegt, die in der Revolution umgewälzt werden müssen, um alle aus ihnen abgeleiteten gesellschaftlichen Beziehungen zu revolutionieren.

Diese grundlegenden Verhältnisse, seit der „Deutschen Ideologie“ und dem „Elend der Philosophie“ mit dem Begriff „Verkehrsformen“ und schließlich „Produktionsverhältnisse“ gekennzeichnet, fasst hier Marx wesentlich unter den Begriff „bürgerliches Leben“. Aus dieser Ganzheit hebt er in entscheidenden Zusammenhängen der Kritik an der idealistischen Geschichtsauffassung und bürgerlich-liberalen Ideologie der Junghegelianer die Industrie und das Eigentum hervor. Kurz, Marx bereitet auch in den Kritiken der „Heiligen Familie“ die für die Revolutionstheorie der Arbeiterklasse entscheidende Einsicht vor, dass die Qualität aller Prozesse der bürgerlichen Gesellschaft und insbesondere die Stellung der Arbeiterklasse in dieser Gesellschaft in letzter Instanz von den in ihr herrschenden Produktions- und Eigentumsverhältnissen bestimmt wird. Daraus aber folgt, dass für die Aufhebung der geknechteten und erniedrigten Situation der Arbeiter in ihr die Aufhebung eben dieser Verhältnisse vorausgesetzt ist. Und daraus folgt ferner – mit prinzipieller Bedeutung auch für die Kritik heutiger opportunistischer und reformistischer Konzepte innerhalb und außerhalb der Arbeiterbewegung –:

Die Lage des arbeitenden Menschen gründlich und dauerhaft in Übereinstimmung mit seinem wirklichen Lebensinteresse zu verändern und umzuwälzen, das kann sich niemals auf den Kampf um Zugeständnisse des Bourgeoisstaates beschränken oder gar als Werk eben dieses Staates erwartet werden. Es ist ja ein Staat, dessen Wesen gerade im Schutz jener Verhältnisse, jenes Eigentums, jener Produktionsweise besteht, die die Herrschaft der Bourgeoisie und die Knechtschaft der Arbeiter unabdingbar voraussetzen. Nicht von der Veränderung dieses Staates, sondern der Umwälzung seiner Grundlagen kann die Arbeiterschaft eine radikale Veränderung ihrer Lage erwarten.

Was Marx so anlässlich eines auf den ersten Blick nebengeordneten Problems und einer auf den ersten Blick auch einigermaßen abstrakten Fragestellung erörtert, nämlich ob die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als Atome vorstellbar seien, zusammengehalten durch den Staat, entpuppt sich tatsächlich als Vorstoß zu einer fundamentalen These der wissenschaftlichen Revolutionstheorie. Die charakteristische Eigenschaft des Atoms, betont Marx, bestehe darin, keine durch seine eigne Naturnotwendigkeit bedingte Beziehung zu andern Wesen außer ihm zu haben; es sei bedürfnislos und selbstgenügsam, es besitze alle Fülle in sich, die Welt außer ihm sei so das Leere. Höchstens in der Einbildung des egoistischen Individuums kann nach Marx eine idealistische Atomisierung des wirklichen materiellen Zusammenhangs der Gesellschaft passieren:

Das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft mag sich in seiner unsinnlichen Vorstellung und unlebendigen Abstraktion zum Atom aufblähen, d. h. zu einem beziehungslosen, selbstgenügsamen, absolut vollen, seligen Wesen. Die unselige sinnliche Wirklichkeit kümmert sich nicht um seine Einbildung, jeder seiner Sinne zwingt es, an den Sinn der Welt und der Individuen außer ihm zu glauben, und selbst sein profaner Magen erinnert es täglich daran, dass die Welt außer ihm nicht leer, sondern das eigentlich Erfüllende ist. –

Jede seiner Wesenstätigkeiten und Eigenschaften, jeder seiner Lebenstriebe wird zum Bedürfnis, zur Not, die seine Selbstsucht zur Sucht nach andern Dingen und Menschen außer ihm macht. Da aber das Bedürfnis des einen Individuums keinen sich von selbst verstehenden Sinn für das andere egoistische Individuum, das die Mittel, jenes Bedürfnis zu befriedigen, besitzt, also keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Befriedigung hat, so muss jedes Individuum diesen Zusammenhang schaffen, indem es gleichfalls zum Kuppler zwischen dem fremden Bedürfnis und den Gegenständen dieses Bedürfnisses wird. –

Die Naturnotwendigkeit also, die menschlichen Wesenseigenschaften, so entfremdet sie auch erscheinen mögen, das Interesse halten die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, das bürgerliche und nicht das politische Leben ist ihr reales Band.

Nicht also der Staat hält die Atome der bürgerlichen Gesellschaft zusammen, sondern dies, dass sie Atome nur in der Vorstellung sind, im Himmel ihrer Einbildung – in der Wirklichkeit aber gewaltig von den Atomen unterschiedene Wesen, nämlich keine göttlichen Egoisten, sondern egoistische Menschen. –

Nur der politische Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, dass das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird.“ [1/26]«

Anmerkung

1/26 Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, S. 127 f.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975.

Studie von Otto Finger. Vgl.: 4.5. Gegen die subjektiv-idealistische Philosophie des Individualismus, in: 4. Kapitel: Materialismus und revolutionäres Klassenbewusstsein contra subjektiven Idealismus (zur aktuellen weltanschaulichen Bedeutung der „Heiligen Familie“)

24.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

//