Sozialistische oder bürgerliche Ideologie – „Ein Mittelding gibt es hier nicht.“

Von Otto Finger

»Lenin zitiert zustimmend einige „sehr treffende und wertvolle Worte K. Kautskys“ zur Kritik der falschen Auffassung, das proletarische Sein und die Entwicklung der sozialökonomischen Verhältnisse sowie des Klassenkampfes würden unmittelbar sozialistisches Bewusstsein und die wissenschaftliche Geschichtserkenntnis hervorbringen. Zwar sei der Sozialismus als Lehre ebenso in den ökonomischen Verhältnissen des Kapitalismus verwurzelt wie der Klassenkampf. Aber sie würden nebeneinander, nicht auseinander entstehen. Die ökonomische Wissenschaft bilde ebenso eine Vorbedingung der sozialistischen Produktion wie die moderne Technik. Das Proletariat könne beim besten Willen weder die eine noch die andere schaffen. Träger der Wissenschaft sei nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz. Deshalb entstehe das sozialistische Bewusstsein nicht urwüchsig aus dem proletarischen Klassenkampf. [1/94]

Das bedeutet freilich nicht, dass die Arbeiter nicht an der Ausarbeitung der sozialistischen Ideologie teilnehmen, wie Lenin betont. Sie nehmen schon am Anfang der Bewegung daran teil, wenn es ihnen gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und so zu bereichern. In diesem Sinne haben etwa auch solche utopischen Sozialisten wie Proudhon und Weitling Anteil an der Ausarbeitung der Arbeiterideologie. Sie nehmen jedoch nicht als Arbeiter, sondern als „Theoretiker des Sozialismus“ daran teil. Lenin stellt in diesem Zusammenhang die für die Phase des antikapitalistischen Emanzipationskampfes wie auch für die Epoche des Aufbaus des Sozialismus gleichermaßen entscheidende Aufgabe, alles zu tun, die Bewusstheit zu heben, damit die Arbeiter häufiger zur Mitwirkung an der Ausarbeitung der Ideologie befähigt werden.

Das Fazit aus dem skizzierten Sachverhalt lautet: „kann nun von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht.“ [2/95]

Lenin formuliert dies als ideologische Konsequenz aus der sozialökonomischen und Klassenentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist in die beiden antagonistischen Hauptklassen der Arbeiter und der Kapitalisten aufgespalten. Ihrem unaufhebbaren ökonomischen Interessengegensatz entspringt der politische und ideologische. –

Der ideologische Gegensatz ist so unversöhnlich wie der ökonomische. Ein „dritter Weg“, jenseits des Klassengegensatzes ist ausgeschlossen; „denn eine ,dritte’ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann“. [3/96]

Die sozialistische Ideologie herabzumindern, ihre Rolle zu unterschätzen, auf ihre zielstrebige Entwicklung und Verbreitung zu verzichten, das bedeutet nicht etwa so etwas wie ein ideologisches Vakuum zu schaffen. Vielmehr bedeutet „jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie“. [4/97]

Wenn also gilt, dass die Ideologie in der sozialen Bewegung mitwirkt, wenn ferner gilt, dass es kein Mittelding zwischen sozialistischer und bürgerlicher Ideologie, keine Alternative zu ihrem Gegensatz gibt, dann gilt auch, dass die Schwächung der sozialistischen zur Stärkung der bürgerlichen Ideologie führt, und dann gilt ferner, dass ideologische Schwächung der Arbeiterklasse einhergeht mit der Untergrabung ihrer politischen Kampfkraft. –

Die Frage nach dem Platz der ideologischen Arbeit in der Partei spitzt sich zu der Frage zu, ob revolutionäre oder opportunistische Politik betrieben, ob der Sozialismus erkämpft oder verraten wird.

Auf die spontane Bewegung allein zu bauen führt so letztendlich zur gegenrevolutionären Strategie. –

Lenin macht es daher der proletarischen Kampfpartei zur unabdingbaren Pflicht, den Kampf gegen die Anbetung der Spontanität zu führen, die Arbeiter über das Nurgewerkschaftertum hinauszuführen. Sie muss dagegen kämpfen, dass die Arbeiterbewegung in Gestalt einer solchen tradeunionistischen Linie „unter die Fittiche der Bourgeoisie“ gerät, dass der bürgerlichen Ideologie das Feld in der Arbeiterbewegung überlassen wird.

Lenin betont: Die ökonomistische und generell opportunistische Vorstellung, dass die ideologischen Führer keinen nennenswerten Einfluss auf die Bewegung und die Wechselwirkung zwischen materiellem Milieu und materiellen Elementen hätten, ist „völlig gleichbedeutend mit dem Verzicht auf den Sozialismus [5/98]

Das Einmünden der Spontanität, des nur gewerkschaftlichen Kampfes in die Herrschaft der bürgerlichen Ideologie erklärt sich aus „dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt“ [6/99].

{…}

Noch immer ist daher eine Grundnorm revolutionärer Politik, die sozialistische Ideologie zu verteidigen, lebendig zu entwickeln und die gegnerische Ideologie, in welcher Spielart auch immer, unerbittlich zu bekämpfen.

Noch immer gilt, dass die wissenschaftliche sozialistische Ideologie ihre führende Position nur erreichen {…} und „sie nur aufrechterhalten können (wird) durch unentwegten Kampf gegen alle anderen Ideologien.“ [7/100]«

[Ein modifizierter Auszug]

1/94 Vgl. W. I. Lenin, Was tun?, in Werke, Bd. 5, S. 394f.

2/95 Ebenda, S. 395f.

3/96 Ebenda, S. 396.

4/97 Ebenda.

5/98 Ebenda.

6/99 Ebenda, S. 397.

7/100 Ebenda (Hervorhebung von O.F.)

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Autor: Otto Finger. Vgl.: 7.10. Sozialistische oder bürgerliche Ideologie, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der nmaterialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.

09.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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