Zur Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation und ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Revolutionstheorie

von Otto Finger

Lenin stellt die Frage, was denn der Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation eigentlich besage und wieso deren Entwicklung als naturgeschichtlicher Prozess in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kritik der genannten idealistischen Vorstellungen der subjektiven Soziologie über die Gesellschaft betrachtet werden müsse. Zunächst beantwortet Lenin die Frage, wie Karl Marx den Begriff der sozialökonomischen Formation gewann. Die beiden grundlegenden Schritte sind die folgenden: Erstens wird das ökonomische Gebiet aus den verschiedenen Gebieten des sozialen Lebens herausgehoben. Zweitens werden „aus der Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse die Produktionsverhältnisse als die grundlegenden, ursprünglichen, alle übrigen Verhältnisse bestimmenden“ herausgehoben. [1/24] Damit wird das Wesen eines historischen Zeitalters, einer Menschheitsepoche, einer Entwicklungsperiode der menschlichen Gesellschaft bestimmbar: Es sind die Produktionsverhältnisse, die ihr Wesen prägen. Ebenso wird damit soziale Revolution im umfassendsten Sinne, qualitativer Sprung in der Sozialgeschichte, tiefgreifende soziale Umwälzung definierbar: Es sind die Produktionsverhältnisse, deren Umwälzung den sozialökonomischen Kern jeder Revolution ausmacht.

Die wissenschaftliche Schranke der alten Sozialphilosophie und Soziologie macht Lenin von daher als eine Dreifache kenntlich:

Zum einen vermochte sie nicht zu den „einfachsten und ursprünglichsten Beziehungen, wie es die Produktionsverhältnisse sind, vorzudringen“; vielmehr wandte sie sich unmittelbar der Analyse der politisch-juristischen Formen zu. [2/25] In anderen Worten: Sie drang nicht zum allesbestimmenden Inhalt vor, sondern blieb bei der Form stehen, in der er sich bewegt.

Dieser „Form“-Fehler bedingte ein Zweites: Die politisch-juristischen „Formen“, die Einrichtungen und Verhältnisse des Überbaus sind bewusst geschaffene Beziehungen. Lenin nennt sie auch aus diesem Grunde „ideologische“ Verhältnisse. Weil nun von diesen bewusst, als „ideologische Macht“ erzeugten Formen nicht zu ihrem sozialökonomischen Inhalt weitergegangen wurde, entstand das Trugbild, als würden die gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt bewusst produziert. Daraus erwächst der idealistische geschichtsphilosophische Schluss, dass soziale Verhältnisse als Schöpfungen des Bewusstseins in ihrem Wesen – zum Unterschied von Naturverhältnissen – ideelle Verhältnisse sind.

Drittens schließlich liegt die Schranke der vor- und nichtmarxistischen nGesellschaftstheorie darin, dass sie es nicht vermag, „in dem komplizierten Netz der sozialen Erscheinungen wichtige Erscheinungen von unwichtigen zu unterscheiden.“ In letzterem liegt, wie Lenin betont, die „Wurzel des Subjektivismus in der Soziologie“. Die nichtmarxistische Soziologie hat kein objektives Kriterium für diese Unterscheidung.

Die von Lenin markierten allgemein theoretischen und methodischen Schranken nichtmarxistischer Sozialtheorie sind auch die prinzipiellen Schranken ihres revolutionstheoretischen Denkens. Für die Unfähigkeit der idealistischen Sozialphilosophie, das Wesen einer sozialen Revolution zu erfassen, folgt aus ihnen:

Sie begreift nicht, dass und wie Revolutionen durch Veränderungen auf ökonomischem Gebiet bedingt werden und ihr fundamentaler Inhalt durch die Veränderung der Produktionsverhältnisse bestimmt sind.

Sie reduziert revolutionäre Vorgänge auf Veränderungen im politisch-juristischen Überbau, oder, wie das Karl Marx und Friedrich Engels in der „Deutschen Ideologie“ ausdrückten, auf „Haupt- und Staatsaktionen“. Schon deshalb entbehrt sie des objektiven Kriteriums, um bloße Veränderungen innerhalb des bestehenden Überbaus, innerhalb der bestehenden Klassenherrschaft, Machtverschiebungen zwischen verschiedenen Fraktionen ein- und derselben Klasse, solche sogenannten „Machtwechsel“ von wirklich revolutionären Umwälzungen zu unterscheiden. Letztere ergreifen stets beides, Basis und Überbau. Auch hat sie darum kein Kriterium, um Revolutionen und Konterrevolutionen zu unterscheiden.

Sie setzt schließlich das Wesen revolutionärer Prozesse in die Sphäre der Ideologie, verwechselt kritisches Denken mit revolutionärem Handeln.

Insgesamt kommt so alles alte und zeitgenössische idealistische Denken in puncto Geschichte und Revolution aus dem folgenden Widerspruch nicht heraus: Einerseits betrachtet es die Gesellschaft und ihre Veränderungen als Erzeugnisse des Bewusstseins. Andererseits widerspricht diese Annahme allen geschichtlichen Beobachtungen. Der wirkliche geschichtliche Verlauf widerspricht stets den idealistischen Versicherungen über seine Triebkräfte und den idealistischen Prophezeiungen über seine „Zwecke“ und Resultate. Das wirkliche Sein der Menschen erweist sich als durchaus anders als das idealistische Bewusstsein von diesem Sein. Erst der Materialismus, betont Lenin, „hat diesen Widerspruch aufgehoben, indem er die Analyse, bis hin zum eigentlichen Ursprung dieser gesellschaftlichen Ideen des Menschen, vertiefte; und seine Schlussfolgerung, dass der Gang der Ideen vom Gang der Dinge abhängt, ist als einzige mit der wissenschaftlichen Psychologie vereinbar“ [3/26].

Vertiefung der Analyse bis auf den Ursprung der gesellschaftlichen Ideen heißt Untersuchung der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse. Lenin definiert sie so: Es sind Verhältnisse, die entstehen, ohne durch das Bewusstsein der Menschen hindurchgegangen zu sein. Die Materialität bezieht sich hierbei auf zwei Aspekte: Einmal sind es keine ideellen Verhältnisse, keine Bewusstseinstatsachen, keine Beziehungen zwischen Ideen, sondern außerbewusste Verhältnisse. Zum anderen sind es Verhältnisse, die notwendig, aus den Gesetzen des materiellen Lebens der Menschen selbst, ihrer materiellen Produktion entstehen müssen, und zwar auch ohne dass die Menschen sich dieser Verhältnisse bewusst sind. Lenin verweist dabei auf den Austausch der Produkte: „… indem die Menschen ihre Produkte austauschen, gehen sie Produktionsverhältnisse ein, sogar ohne sich der Tatsache bewusst zu werden, dass es sich dabei um ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis handelt“ [4/27] –

Wenn die Analyse bis auf diesen Punkt, die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, vertieft wird, dann wird der Sprung aus der bloßen Beschreibung der sozialen Erscheinungen und aus der Spekulation über sie zur Wissenschaft möglich. Und zwar dadurch, dass mit dieser Vertiefung das objektive Gesetz einer sozialen Bewegung erschließbar wird. –

Um Gesetze innerhalb des Flusses der sozialen Erscheinungen handelt es sich aber dann, wenn die Untersuchung zunächst diese beiden Tatbestände ermittelt: die Wiederholbarkeit und die Regelmäßigkeit. Die Untersuchung der materiellen sozialen Beziehungen, der Verhältnisse der materiellen Produktion führt zu der für die Geburt der Gesellschaftswissenschaft entscheidenden Entdeckung, dass bestimmte Verhältnisse unter bestimmten Bedingungen regelmäßig auftreten und sich wiederholen. Sie erweisen sich als gesetzmäßig, sowohl in ihrer Herausbildung als auch in ihrer weiteren Entwicklung.

Die ideologischen Verhältnisse werden aus den Produktionsverhältnissen abgeleitet. Letztere aus den Produktivkräften. Ihr Gesamtzusammenhang ergibt die ökonomische Gesellschaftsformation. Der „naturgeschichtliche Prozess“ der Gesellschaft, das ist der gesetzmäßige Entwicklungsprozess der Produktivkräfte in dialektischer Einheit mit den Produktionsverhältnissen.

Wenn Lenin in diesem Zusammenhang – der Marxschen Herausarbeitung der Entwicklungsgesetze der ökonomischen Gesellschaftsformation des Kapitalismus – das theoretische „Gerippe“ des Marxschen „Kapitals“ kennzeichnet, bezieht er ausdrücklich den für revolutionäre sozialistische Ideologie ausschlaggebenden Gesichtspunkt ein, dass nämlich die Untersuchung dieser Entwicklungsprozesse in der Aufdeckung von inneren Widersprüchen dieser Ordnung mündet.

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Drei Dinge betont Lenin hierbei, die für die materialistisch-dialektische Theorie der Revolution von enormer Wichtigkeit sind. Erstens: Marx deckt die in dieser Produktionsweise selbst liegenden Widersprüche auf; seine Analyse erklärt den Kapitalismus aus den in ihm herrschenden Produktionsverhältnissen, ohne „fremde Zutat“, ohne, wie Lenin unterstreicht, „je zur Erklärung der Sache andere außerhalb dieser Produktionsverhältnisse liegende Momente heranzuziehen“ [5/28]. Zweitens: Im Rahmen seiner Produktionsverhältnisse erzeugt der Kapitalismus den antagonistischen, d. i. unversöhnlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Drittens: Die kapitalistische Warenwirtschaft erhöht die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit in einem Maße, die zu den Grundlagen, den Produktionsverhältnissen dieser Ordnung selbst in einem, wie Lenin hervorhebt, „unversöhnlichen Widerspruch gerät“ [6/29]. Hieraus folgt für die Theorie der sozialistischen Revolution:

Ihre Notwendigkeit ergibt sich aus den inneren Widersprüchen des Kapitalismus. Der Kapitalismus selbst treibt zur revolutionären Beseitigung seiner Grundlagen. Er kann weder „von außen“ geheilt noch „von außen“ revolutioniert werden. Es bedarf keines „Exports“ der Revolution. Die Revolution ist nichts, was künstlich „gemacht“ zu werden brauchte oder könnte.

Ihre Notwendigkeit erwächst generell aus dem Widerspruch zwischen den Entwicklungsprozessen der durch den Kapitalismus erzeugten Produktivkräfte und den zugrundeliegenden Eigentumsverhältnissen. Dieser Widerspruch ist unversöhnlich. Er ist im Rahmen des Kapitalismus nicht zu lösen. Folglich kann nur der Sturz des Kapitalismus ihn beseitigen.

Die objektive Notwendigkeit der Revolution schlägt in den revolutionären Prozess selbst auf der Basis des Klassenantagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat um.

Das sind die elementaren revolutionstheoretischen Grundaussagen, wie sie sich aus Lenins Klarstellung des „Gerippes“ des „Kapitals“ ergeben. Sie sind unlösbar mit der materialistischen Bestimmung der Gesellschaftsformation verknüpft. Ebenso freilich mit der dialektischen Betrachtungsweise der Gesellschaftsformation.«

Anmerkungen

1/24 W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“…, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 128.

2/25 Ebenda, S. 129.

3/26 Ebenda, S. 130.

4/27 Ebenda, S. 131.

5/28 Ebenda, S. 132.

6/29 Ebenda.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 7.4. Zur Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation und ihrer Bedeutung für die wissenschaftliche Revolutionstheorie, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.

02.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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